DIE KLASSEFRAU
Verlag | Heyne-Verlag, München
Erscheinungsdatum | 1997
LESEPROBE:
Endlich! Ich lasse mich auf meinen Sitz fallen, schließe für einen Augenblick die Augen und registriere die gedämpfte Unruhe um mich herum – das Scharren der Handgepäckstücke, das Rascheln der Regenmäntel und schließlich das Schnappen der Gurtschlösser. Geschafft! Wir haben den Flughafen trotz sintflutartiger Regenfälle pünktlich erreicht, sitzen im richtigen Flugzeug, und wenn alles gut geht, werden wir in einigen Stunden in New York landen.
News York! Am liebsten würde ich die ganze Welt umarmen. Jedenfalls die Passagiere dieser Maschine und erst recht ihre Crew, vornweg den Flugkapitän. Aber da das natürlich nicht möglich ist, beschränke ich den Ausdruck meines Freudentaumels dann doch auf den Mann, der neben mir sitzt. Ihm, mit dem ich heute genau sechzehn Jahre und zwei Tage verheiratet bin, werfe ich mich an den Hals, soweit die Enge des Flugzeugs es zulässt.
Philip lässt meine außerplanmäßige Liebesbezeigung ungeduldig über sich ergehen. Er schätzt Vertraulichkeiten in der Öffentlichkeit nicht besonders und ist froh, als er seinen Kopf von meiner Brust nehmen und sich mit dem Anschnallvorgang beschäftigen kann. Außerdem ist Technik für ihn so spannend, dass er die Welt um sich herum vergisst, wenn er beobachten darf, wie auf dem Rollfeld unser Abflug vorbereitet wird und die Veränderung eines Maschinengeräuschs auf eine bestimmte Phase der Starteinleitung hinweist. Philip weiß natürlich auch ganz genau, wie da Flugzeug heißt, in dem wir sitzen, in welchem Jahr es konstruiert wurde und wie viele Abstürze dieser Typ schon hinnehmen musste. Mich interessiert keines dieser Details. Ich denke nur an die nächste Zukunft - die Zukunft von einer Woche. Ich freue mich wahnsinnig auf New York, auf das Alleinsein mit Philip und auf das Hotelzimmer, das uns erwartet. Endlose Stunden mit meinem Mann – ohne Familienangehörige! Seit sich unser Haus mit Kindern und Omas gefüllt hat, fühlen wir uns oft an die junge Zeit unserer Liebe erinnert. Damals war ihr körperlicher Ausdruck noch nicht erlaubt oder zumindest unerwünscht und musste unauffällig vonstatten gehen. In dieser Lage befinden wir uns heute wieder. Wir müssen, wenn wir ganz sicher ungestört bleiben wollen, den Schlüssel zum Schlafzimmer zweimal umdrehen und sogar noch an eine solide Schallisolierung denken. Herrlich, dass wir die Nachbarn, die in New York die Hotelzimmer neben uns bewohnen werden, nicht kennen!
Der große Vogel rumpelt jetzt unbeholfen dahin auf seinen unproportionierten Rädern. Wie ein Flugtier, das auf der Erde nicht in seinem Element ist, biegt er vorsichtig in die Startbahn ein, streckt seine Nase in die vorgeschriebene Richtung und schüttelt ungeduldig sein stählernes Gefieder. Doch kaum hat er die schier endlose, pfeilgerade Linie vor sich, die direkt in den Himmel führt, da gibt es kein Halten mehr. Die Bremsen lösen sich, die Räder geben ein erschrockenes Fiepen von sich, ehe sie sich unter schrillem Protestgeschrei daran machen, das Letzte aus sich herauszuholen., um sich endlich ihrer unangemessenen Aufgabe der Fortbewegung zu entledigen. Die wichtigsten Körperteile eines Vogels sind eben doch seine Flügel.
Ich greife nach Philips Hand, als die rasende Fahrt am Ende der Startbahn urplötzlich zu einem seichten Schwanken wird, das die Wolken zum Stehen bringt und 380 Passagiere über der Welt anhält, die zu weit entfernt ist, um sich von unserem Tempo verschlingen zu lassen. Die Geschwindigkeitsmessung der Augen und Ohren ist damit beendet. Ich beginne mich in der Luft einzurichten.
Der Alptraum, der mich in der letzten Nacht heimgesucht hat, ist auf der Erde zurück geblieben. Neben meiner Vorfreude, die es mir verbietet, über einen möglichen Absturz nachzudenken, ist es auch die Vernunft, die meine Angst besiegt hat. Schließlich sagt die Statistik eindeutig, dass es viel wahrscheinlicher ist, auf der Autobahn als auf einer Flugroute umzukommen. Demnach waren – statistisch gesehen – unsere Wochenendfahrten an den Bodensee zu Philips Verwandten viel gefährlicher als dieser Trip über den großen Teich. Und niemals habe ich mir Gedanken über die mögliche Verwaisung meiner drei Kinder gemacht, wenn wir wieder einmal nach Lindau aufbrechen mussten, um einer weiteren Taufe des fruchtbaren Bodensee-Clans beizuwohnen. Warum also jetzt?
Was werden meine drei in diesem Augenblick tun? Carolin, die Vierzehnjährige, müsste noch in der Schule sein, wenn sie sich keines Unterrichtsausfalls erfreut und ihre Gewissenhaftigkeit nicht durch die Abwesenheit ihrer Eltern erschüttert wurde. Nico, mein Elfjähriger, der seit ein paar Monaten das Gymnasium besucht, dürfte sich in diesen Minuten auf sein Fahrrad schwingen und – vermutlich wieder freihändig und unter Missachtung sämtlicher Sicherheitsvorschriften – heimwärts brausen. Dort wird Timo schon auf ihn warten, denn der Kindergarten hat längst seine Tore geschlossen. Mein Jüngster kann es zwar einerseits kaum erwarten, endlich zu denen zu gehören, die einen wichtigen Ranzen auf dem Rücken nach Hause tragen, ist aber andererseits auch ganz froh über jede Stunde, die er ohne die Konkurrenz seiner älteren Geschwister zu Hause verbringen darf. In diesem Augenblick wird er vermutlich wie ein kleiner Macho die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner beiden Großmütter genießen. Sie werden darin wetteifern, dem zurzeit mutterlosen Knirps die Sehnsucht nach seiner Mama durch besondere Zuwendung und Extraportionen Popcorn und Gummibärchen auszutreiben. Timo wird spätestens eine Stunde nach unserer Abreise begriffen haben, worauf es ankommt, und den schwermütigen Blick eines von seiner Mutter verlassenen Kindes perfekt beherrschen. Und seine Oma mütterlicherseits wird nickten und etwas davon murmeln, dass eine Familie zusammen gehört ...