Kurschatten

Mama Carlottas siebter Fall

Erscheint Frühjahr 2013

 

 

Leseprobe:

Es war dunkel. Stockfinster! Kein winziger Lichtschein, kein grauer Fleck in der Schwärze, die ihn umgab! Nichts! Wo, um Himmels willen, war er gelandet? Eingesperrt? Ja, eingesperrt! Aber wo? Um ihn herum war alles so still, wie es dunkel war. Kein Licht und kein Geräusch. Nur der Geruch war ihm vertraut. Und nun begriff er, dass er in seinem Auto saß. Es roch nach Straßenschmutz, nach Leder, nach einem Reinigungsmittel und der alten Decke, die stets auf seinem Rücksitz lag. Ungewaschen und verfilzt. Und es roch … nach Obst. Sein Bewusstsein war noch getrübt, aber er wusste, dass es nicht nach Obst riechen durfte. Er war gefährlich, wenn sein Atem nach Obst roch.
Vorsichtig versuchte er sich aufzurichten. Sein ganzer Körper schmerzte, er musste schon lange in dieser unbequemen Haltung sitzen. Sein Kopf dröhnte, das Pochen hinter seiner Stirn schwoll an, als er versuchte, sich zu bewegen. Es ging nicht! Sein rechter Arm ließ sich dehnen, er konnte nach dem Türgriff tasten, aber der linke gehorchte ihm nicht. Er begann zu zerren, zu reißen, aber er erreichte nichts. Nur ein metallisches Klirren! Seine Hand steckte in einer Fessel. Am Schaltknüppel angekettet! Und seine Rechte betätigte den Türgriff vergeblich. Das Auto war verschlossen.
Er merkte, dass ihm der Schweiß ausbrach, obwohl es eiskalt im Auto war. Er trug nur einen leichten Pullover, seine Jacke musste irgendwo auf dem Rücksitz liegen. Unerreichbar! So weit es ging, beugte er sich vor, suchte mit der rechten Hand nach dem Zündschloss… es steckte kein Schlüssel drin.
„Hilfe!“
Er erschrak über seine eigene Stimme. Sie war ohne Echo, sie prallte von den Seitenscheiben zurück, er wusste, dass niemand ihn hörte.
„Ich will hier raus!“
Er tastete nach der Hupe, obwohl er wusste, dass sie nicht reagieren würde. Wütend drückte er und drückte … dabei wusste er nicht einmal, ob jemand sie hören würde, wenn sie einen Ton von sich gegeben hätte.
Was war geschehen? Sein Kopf war völlig benommen, er konnte sich nicht erinnern, was ihm widerfahren war. Wo befand er sich? Irgendwo tief unter der Erde? Bei diesem Gedanken schoss die Verzweiflung in ihm hoch. Verschüttet?
„Nein, nein!“
Er hätte seinen linken Arm hergegeben, wenn er dadurch freigekommen wäre. Aber … frei? Was würde ihn erwarten, wenn er sein Auto verlassen könnte? Was war das um ihn herum? Was versteckte sich in dieser Schwärze? In dieser unheimlichen Lautlosigkeit? Wohin würde er treten, wenn er einen Fuß aus dem Auto setzen könnte? Ins Leere? Würde er abstürzen in eine Schlucht? Versinken im Wasser? Was erwartete ihn außerhalb seines Wagens?
„Hilfe!“
Und als wäre es ein Echo auf seinen Schrei, hörte er nun etwas. Ein fernes Geräusch, das Summen eines Motors. Dann ein Rumpeln, eine Bewegung, die sich auf seinen Wagen übertrug, nur kurz, aber für einen wundervollen Augenblick der Kontakt zum Leben, zur Außenwelt.
„Hilfe!“
Schon im nächsten Augenblick wusste er nicht mehr, ob er sich nur eingebildet hatte, dass ein wenig Licht in sein Gefängnis gedrungen war. Aber immerhin gab es nun Bewegung in der Finsternis. Winzige Punkte blinkten auf, rote Stiche auf schwarzem Grund. Und Bewegung um ihn herum! Er sah sie nicht, aber er spürte und hörte sie. Quietschendes Gestänge, leises Rumoren, nun vibrierte die Karosserie seines Autos. Dann ein Rasseln, ein Dröhnen und der Nachhall eines Geräusches, das sich in einem metallenen Gehäuse verfangen hatte. Dann war es vorbei. Stille, eisige Stille war wieder dort, wo es eine kurze Hoffnung gegeben hatte. So still wie in einem Grab.

Der Wind kam vom Meer. Kalt war er, mit spitzen, eisigen Fingern griff er nach Schals, Mützen und Handschuhen. Wer ihm begegnete, ging gebeugt, machte sich klein und bot so wenig Angriffsfläche wie möglich. Wer von ihm gejagt wurde, sorgte dafür, dass er nichts an sich riss und mitnahm. Unberechenbar war er, dieser Wind. Manchmal schwieg er oder säuselte nur heuchlerisch, dann wieder griff er so unvermutet an, dass er Fußgänger und Radfahrer übertölpelte und auf einen Zickzackkurs zwang, der gefährlich war.
Carlotta Capella kannte sich mittlerweile aus. Sie wusste, wie der Wind sich im Frühling gebärdete, dass er manchmal sogar im Sommer Ernst machte und jetzt, im Herbst, unerbittlich wurde. Immer, wenn sie von ihren Besuchen in Wenningstedt nach Italien zurückkehrte, erzählte sie dort von diesem Wind. Aber kaum jemand von denen, die den Wind nur als laues Lüftchen kannten, konnte sich vorstellen, wie eisig er war, wenn er vom Meer kam und über Sylt hinwegfegte.
Sie hatte sich über den Süder Wung, die Straße, in der das Haus ihres Schwiegersohns stand, bis zum Osterweg treiben lassen, dann bog sie links ab und konnte sich im Schutz der Bebauung vor dem Wind sicher fühlen. Im Nu war sie bei Feinkost Meyer angekommen, wo sie nach frischen Salbeiblättern fragen wollte, die für den Reis mit brauner Butter, den sie zum Abendessen servieren wollte, unerlässlich waren. „Riso al burro versato schmeckt nur mit frischem Salbei!“
Damit war sie zu Hause aufgebrochen. Was sie wirklich vorhatte, durfte niemand wissen.
Vorsichtig tastete sie nach dem Brief, den sie in die Innentasche der winddichten Jacke gesteckt hatte, die Erik ihr immer zur Verfügung stellte, wenn sie auf Sylt zu Besuch war. Sie hörte das leise Knistern und war beruhigt.
Als sie die Salbeiblätter in der Tasche hatte und den Parkplatz des Supermarktes überquerte, sah sie sich vorsichtig um. Beobachtete sie jemand? Wurde ein Kunde von Feinkost Meyer auf sie aufmerksam, den sie kannte? Aber sie machte nur ein paar Touristen aus, von denen es auch im Herbst viele auf Sylt gab. Sie waren damit beschäftigt, ihre Einkäufe in ihren Autos zu verstauen und die Einkaufswagen in den Laden zurückzubringen, ohne dass der Wind sie ihnen aus der Hand riss.
Mamma Carlotta zog den Reißverschluss der winddichten Jacke, die Erik ihr zur Verfügung gestellt hatte, bis zum Kinn und strich die Hose glatt, die sie nur auf Sylt trug, weil in ihrem Dorf keine einzige Frau ihres Alters jemals eine Hose getragen hatte. Auf die Kapuze verzichtete sie und hielt ihre kurzen Locken dem Wind hin. Anfang Oktober biss er noch nicht zu, zerrte noch nicht an den Haaren, riss sie nicht gewaltsam aus ihrer Ordnung, sondern brachte nur durcheinander, was nicht unbedingt bleiben musste, wie es war. Es war schön, sich der Planlosigkeit des Windes hinzugeben. Sie vermittelte ein Gefühl von Freiheit, das Mamma Carlotta gut gebrauchen konnte. Es würde ihr vielleicht dabei helfen, sich zum ersten Mal in ihrem Leben gegen die Obrigkeit aufzulehnen. Protestieren! Demonstrieren! Noch nie in ihrem Leben hatte sie etwas Derartiges getan. Aber heute würde sie damit beginnen. Egal, was ihr Schwiegersohn dazu sagte.
Nur leider stand ihr auch noch eine andere Aufgabe bevor. Sie hatte ihrem Neffen ein Versprechen gegeben, ohne zu ahnen, welche Schwierigkeiten auf sie zukommen würden. Dabei kannte sie Niccolo und hätte es sich denken können. Er würde flehen und fluchen, wenn sie ihm nicht helfen wollte, abwechselnd von Selbstmord und Auswanderung reden und behaupten, seine Tante sei schuld daran, dass die Familie Capella ausgerechnet den Spross verlor, der den Angehörigen zuliebe auf sein eigentliches Berufsziel verzichtet hatte. Auch Mamma Carlotta hatte zu denen gehört, die ihm eine Zukunft als Zirkusartist ausgeredet hatten, und sie war genauso froh gewesen wie alle anderen, als Niccolo endlich damit aufhörte, im Handstand die Straße herunterzulaufen und sich an Dachrinnen entlangzuhangeln. Wie erleichtert war die Familie gewesen, als Niccolo endlich damit einverstanden war, seine berufliche Zukunft in der Gastronomie zu suchen. Wenn er sich jetzt vor lauter Verzweiflung doch noch einem Zirkus anschloss, würden alle gegen sie sein. Niemand würde Verständnis dafür haben, dass sie für ihn nicht alles getan hatte, was mit Übertreibungen, Notlügen, theatralischen Gesten, mit dem Anflehen des Himmels und notfalls mit Bestechung möglich war.
Nun war sie an der Ampel angekommen, die über die breite, stark befahrene Umgehungsstraße führte und dann direkt auf Braderup zu. Dass der Wind sie vor sich herjagte, tat ihr gut. Hätte sie sich ihm entgegenstemmen müssen, wäre es ihr sicherlich schwerer gefallen, ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen, womöglich hätte der Mut sie dann verlassen. Wieder sah sie sich um, als die Ampel auf Grün wechselte. Wurde jemand auf sie aufmerksam, der sie später verraten konnte? Erst als sie sicher war, dass niemand ihr einen Blick gönnte, schob sie ihr Fahrrad über die Straße. Auf der anderen Seite sprang sie so hastig aufs Rad, als hätte sie Angst vor Verfolgung.
Nun ging es immer geradeaus. Zeit zum Nachdenken, Zeit, sich eine Ausrede zu überlegen, falls sie gesehen wurde, Zeit, ein letztes Mal zu erwägen, ob das Risiko zu groß war. Zeit aber auch, einfach an etwas anderes zu denken, was ihr Gewissen nicht belastete. Zum Beispiel ans Abendessen. Wenn alles gut gegangen war, würde sie behaupten, ein Verkäufer sei extra für sie ins Kühlhaus gelaufen, um dort den frischesten Salbei herauszusuchen, was bedauerlicherweise sehr lange gedauert habe, weil der gute Mann nicht besonders flott auf den Beinen war. Und dann wären die Schlangen vor den Kassen so lang gewesen, dass das Einkaufen länger gedauert hatte als sonst, obwohl es nur um ein Sträußchen Salbei gegangen war. Natürlich würden ihre Enkel ihr unterstellen, sie hätte mit den Verkäuferinnen geschwatzt, den Kassiererinnen ihre Lebensgeschichte erzählt und dem Käseverkäufer das Bekenntnis entlockt, ein Auge auf die junge, hübsche Verkäuferin an der Fischtheke geworfen zu haben – aber das war nicht schlimm. Sie würde nicht darauf antworten, Carolin und Felix würden sich in ihrem Verdacht bestätigt sehen, und niemand würde sich dann Gedanken darüber machen, warum sie für einen Einkauf bei Feinkost Meyer viermal so viel Zeit brauchte wie Erik oder die Kinder.
Mamma Carlotta kaufte gern ein, vor allem auf Sylt, wo alles viel leichter war. Daheim in Umbrien musste sie von einem Ende des Dorfes zum anderen laufen, bis sie bei dem Metzger angekommen war, dann in die Weinberge, wo der Gemüsebauer seinen Stand hatte, und schließlich zu dem kleinen Laden von Signora Criscito, die ihre fünf Quadratmeter Verkaufsfläche supermercato nannte. Dort gab es alle anderen Lebensmittel, jedenfalls dann, wenn sie vorrätig waren, was allerdings nie sicher war, da die Lagermöglichkeiten hinter dem winzigen Verkaufsraum begrenzt waren und Signora Criscito nur einmal in der Woche, nämlich mittwochs, zum Großmarkt fuhr. Wer coniglio con le noci auf den Speiseplan gesetzt hatte und froh war, beim Metzger ein schlachtfrisches Kaninchen ergattert zu haben, der konnte Pech haben, wenn Signora Criscito die letzten Walnüsse an die Köchin der Familie di Lauro verkauft hatte, die ihr Walnussöl gern selbst herstellte.
Bei Feinkost Meyer in Wenningstedt war dagegen alles anders. Noch nie war es vorgekommen, dass der Zucker ausgegangen war, weil eine Wenningstedter Hausfrau sich spontan entschlossen hatte, große Mengen Johannisbeergelee zu kochen. Und Mamma Carlotta hatte nie erlebt, dass der Filialleiter die Schultern zuckte und auf nächsten Mittwoch verwies, wenn am Donnerstag eine Pensionswirtin ein Dutzend Honiggläser auf einmal gekauft hatte. Nein, in diesem Laden war das Angebot stets komplett, es gab sogar Erdbeeren im Herbst und Basilikum im Winter.
Nur eins war im Laden von Signora Criscito angenehmer: Dort hatte immer jemand Zeit, über das Wetter, die Nachbarn, die verschwundene Katze des Pfarrers und die merkwürdige Gewohnheit des Briefträgers zu reden, der jungen, hübschen Musiklehrerin die Post immer zuerst zu bringen und sich als Gegenleistung zu einem Espresso einladen zu lassen. Für solche angenehmen Plaudereien war bei Feinkost Meyer leider nur selten Zeit. Die Kassiererinnen hatten viel zu tun, vor der Käse- und Fleischtheke stand man nie allein, und die Touristen, die bei Feinkost Meyer einkauften, drängten so eilig an die Kassen, als wäre ihr Urlaub ein dringendes Geschäft, das unverzüglich erledigt werden müsse.
Als der Terp Wai auf den Buchholz-Stich stieß, stieg sie ab, um ihren Plan ein letztes Mal zu überdenken. Ihre Enkel würden sie eine Verräterin nennen, aber ihr Neffe rechnete damit, dass sie sich seiner Sache annahm. Wessen Interessen waren höher zu veranschlagen? Felix und Carolin hatten ein hohes Ziel, aber bei Niccolo ging es um die berufliche Existenz, die seine Frau ihm nach der Scheidung ruiniert hatte. Nach Mamma Carlottas Ankunft auf Sylt waren die Kinder glücklich gewesen, dass die Nonna sich an ihre Seite stellte und mit ihnen für die gute Sache kämpfen wollte. Sollte ihnen zu Ohren kommen, was sie Niccolo versprochen hatte, würden sie sehr enttäuscht sein von ihrer Großmutter. Eine schreckliche Vorstellung! Aber ihr Gewissen würde nicht weniger belastet sein, wenn sie nach Italien zurückkehrte, ohne das Versprechen eingelöst zu haben, das sie Niccolo gegeben hatte. Als er sie bat, konnte sie ja nicht ahnen, in welchen Konflikt sie geraten würde.