TOD IM DÜNENGRAS | DER 3. SYLT-KRIMI MIT MAMMA CARLOTTA
Verlag | Piper-Verlag
Erscheinungsdatum | Sommer 2009
LESEPROBE:
Das Meer war von einem schönen dunklen Blau an diesem Tag. Wenn eine Woge sich aufbäumte, sich beugte und mit gischtigen Fingern nach der Brandung griff, entstand, kurz bevor sie zusammenbrach, ein wunderbares Grün direkt unter dem Scheitelpunkt der Welle. Erik zwang sich, wieder und immer wieder nach diesem Grün zu suchen, damit er sich weiterhin dem Meer zu- und vom Strand abwenden konnte. Am liebsten hätte er sich bei der kompletten Nordsee entschuldigt für das, was hinter seinem Rücken geschah...
Es war ein früher Sonntagmorgen. Die Hochsaison war vorbei, die Nachsaison brachte zwar noch viele sonnige Tage, aber sie begannen nicht mehr leuchtend blau, sondern grau und verhangen. Auch dieser Morgen hatte sich durch einen Dunstschleier ans Licht gedrängt, jetzt aber stand er in einem klaren Grau über ihnen, das nicht weniger schön war als das Blau des Hochsommers. Deswegen war Erik bereit gewesen, seinen ersten freien Tag nach der Ankunft seiner Schwiegermutter auf Sylt mit einem Strandspaziergang zu beginnen. Mamma Carlotta hatte es sich gewünscht, und er war gern darauf eingegangen. Sogar die Kinder hatten sich bereit erklärt, den Sonntag ihrer Nonna zuliebe mit frühem Aufstehen zu beginnen. Ohne zu murren, hatten sie sich ihre winddichten Jacken übergezogen, denn der Sommer machte Anstalten, das Staffelholz an den Herbst zu übergeben.
Erik liebte es, wenn der Strand noch menschenleer war oder nur ein paar Frühaufsteher an der Wasserkante entlangwanderten. Er genoss die Stille, die in Wirklichkeit alles andere als still war, liebte das Getöse, mit dem die Brandung an den Strand schlug. Still waren sie trotzdem, diese frühen Stunden am Meer, in denen nur die Natur lärmte und alles andere schwieg.
So jedenfalls hatte Erik sich diesen Spaziergang vorgestellt. Schweigend, den Blick aufs Meer gerichtet oder in den Himmel, mal auf die Füße, um zu beobachten, wie sie sich in den Sand gruben, oder zurück, um die Spur zu verfolgen, die sich hinter ihnen aufreihte.
Die Strandspaziergänge, die er mit Lucia gemacht hatte, waren so gewesen. Seiner Frau war das Schweigen genauso schwer gefallen wie ihrer Mutter, aber angesichts der Weite des Strandes und des Meeres war auch sie verstummt, hatte ihre Hand in seine geschoben und ihre Verbundenheit schweigend genossen. Auge in Auge mit der Kraft des Meeres war Erik ihre Übereinstimmung genauso stark erschienen, während ihrer Strandspaziergänge hätte er es nicht für möglich gehalten, dass einmal etwas so Zufälliges wie die kurze Unaufmerksamkeit eines Lkw-Fahrers ihre Verbundenheit zerstören könnte.
Er schloss die Augen und kniff sie fest zusammen, um Lucias Bild wegzudrängen. Schlimm genug, dass die Stimme in seinem Rücken ihn so sehr an Lucia erinnerte, dass es wehtat. Da half es gar nichts, die Ähnlichkeit zu leugnen, nur weil Lucia in einem Moment wie diesem geschwiegen hätte.
„Il mare! Wie majestätisch!“
Noch immer wandte er sich nicht um, weil er sich nicht zusätzlich zu ihrer lauten Stimme, der Pathetik und dem Tempo, mit dem die Worte seiner Schwiegermutter von der Zunge rollten, noch über ihre großen Gesten ärgern wollte. Und auf keinen Fall wollte er Mamma Carlotta bewundern, obwohl es schon erstaunlich war, über welchen Wortschatz sie mittlerweile verfügte. Erst recht, wenn man berücksichtigte, auf welche Weise sie die deutsche Sprache erlernt hatte. Ohne Lehrbuch, ohne Sprachtrainer, ohne Vokabelhefte oder das Lernen unregelmäßiger Verben. Carlotta Capella hatte Deutsch gelernt, indem sie mit Lucia und den Kindern am Telefon redete, und hatte ihre Sprachkenntnisse verbessert, als ihr Nachbar eine Deutsche heiratete, die sich gern in ihrer Muttersprache unterhielt. Über die Grammatik lernte sie erst etwas, als Carolin beschloss, Lehrerin zu werden, an ihrer Großmutter ihr späteres pädagogisches Wirken trainieren wollte und ihr viele schriftliche Aufgaben nach Umbrien schickte, deren Lösungen sie später am Telefon gewissenhaft überprüfte. Erik Wolf, der vierzehn Jahre jünger war als seine Schwiegermutter, war sicher, dass es ihm niemals gelungen wäre, auf gleiche Weise Italienisch zu lernen. Er konnte sich nur mühsam verständigen, wenn er in Umbrien war, obwohl Lucia sich große Mühe gegeben hatte, ihn mit ihrer Muttersprache vertraut zu machen, damit er sich mit den vielen Tanten, Onkeln, Cousinen, Cousins und weiteren Mitgliedern des riesigen Capella-Clans verständigen konnte. Er hatte es nicht geschafft. Und irgendwann war er sogar froh gewesen, dass er der einzige war, dem es nachgesehen wurde, schweigend einer lautstarken Diskussion beizuwohnen, ohne sich einzumischen, oder einfach nur dabei zu sitzen und an etwas anderes zu denken. Nach dieser Erkenntnis hatte er seine Bemühungen gänzlich eingestellt und war dankbar gewesen, dass niemand mehr versuchte, ihn in ein Gespräch zu ziehen, das ihn schon beim Zuschauen schwindelig machte.
„Dieser herrliche Strand!“, hörte er in seinem Rücken. „Ohne die vielen Strandkörbe gefällt er mir noch besser! Nur dieser graue Himmel! So etwas gibt es in Italia nicht. Und il sole...“
Erik hörte ein verächtliches Schnalzen. Bei allem, was Darlotta mittlerweile an Sylt lieben gelernt hatte – mit der Dauer und der Kraft des Sonnenscheins war sie nie zufrieden.
„Carolina! Wird in deinem Chor auch ein Lied über das Meer gesungen?“
Nein, nicht auch das noch! Seit Carolin dem Inselchor beigetreten war und daraufhin den Beschluss gefasst hatte, nun Sängerin zu werden, gab es im Hause Wolf keine ruhige Minute mehr. Dabei war auf Carolins Einsilbigkeit bis dahin stets Verlass gewesen, sie war eben ganz Eriks Tochter. Schlimm genug, dass Felix genauso lärmend war wie seine italienischen Vorfahren und genauso gern und laut redete wie sie. Erik war immer dankbar gewesen, dass aus Carolins Zimmer selten ein Laut drang und dass sie stundenlang schweigend neben ihm sitzen konnte.
Neuerdings aber sang sie! Sehr laut, sehr enthusiastisch und vor allem: den lieben langen Tag. Wenn er sich anfänglich noch über die hübsche klare Stimme seiner Tochter gefreut hatte, so war es damit bald vorbei gewesen. Manchmal war er sogar drauf und dran, ihr zu verraten, wie wenig er daran glaubte, dass ihr Talent für eine Karriere ausreichte. Aber dann brachte er es doch nicht übers Herz und hoffte, dass ihr diese Erkenntnis irgendwann selbst kommen würde. Hoffentlich bald!
Das wiederholte er leise, als Carolin begann: „Wir lieben die Stürme, die brausenden Wogen, der eiskalten Winde rauhes Gesicht...“
Erik sah sich nach allen Seiten um. Hoffentlich war kein Bekannter in der Nähe, der mitanhören konnte, wie Carolin gegen die Brandung ansang. Und dass jemand ihre Gesangsdarbietung beobachtete, wollte er erst recht nicht. Denn Carolin sang nicht nur sehr laut und unbekümmert, sondern machte auch vor den Posen einer Operndiva nicht halt. Kein Zweifel, die Mitgliedschaft im Inselchor tat ihrem Selbstbewusstsein gut, darüber sollte sich Erik eigentlich freuen. Und seit sie wusste, dass sie bei dem sehnsüchtig erwarteten Wettsingen ein Duett mit der Solosängerin bestreiten würde, ging es mit ihrem Selbstwertgefühl sogar noch weiter bergauf. Nachdem sich herausgestellt hatte, dass sie als einziges Chormitglied Noten lesen und vom Blatt singen konnte, ärgerte sie sich nicht einmal mehr über ihren Bruder, der sich über das Volkslieder-Repertoire des Inselchors lustig machte. Nein, Carolin stand zu ihrer Entscheidung, den grünen Wald und die Vögelein darin zu besingen oder eben die brausenden Wogen.
Erik konnte nicht umhin, seine Tochter für ihre aufrechte Haltung zu bewundern. Trotzdem wär es ihm lieber gewesen, sie hätte sich für die Musik von Amy Winehouse oder Bridney Speares begeistert. Es wäre ihm normaler vorgekommen. Er wollte eine ganz normale Tochter, die sich so normal verhielt wie ihre Klassenkameradinnen. Während der paar Monate, in denen Carolin unbedingt Schriftstellerin werden wollte, hatte ihn schon ihre Schwärmerei für Günter Grass ähnlich befremdet wie ihre Liebe zur Volksmusik. Kein Wunder, dass Carolin so wenig Kontakt zu Gleichaltrigen hatte. Wer keine einzige CD von Tokyo Hotel besaß und von Rockmusik weniger verstand als der eigene Vater, der war zum Außenseiter verdammt. Das Wettsingen des Inselchors würde Carolins Beliebtheit nicht steigern. Und das Schlimmste war, dass ihr das vermutlich völlig gleichgültig sein würde.
Erik entfernte sich von der Wasserkante, um Abstand zu seiner Tochter und seiner Schwiegermutter zu gewinnen. Er würde sich ihnen erst wieder nähern, wenn sämtliche Strophen von „Wir lieben die Stürme“ heruntergesungen waren.
Erfreut stellte er fest, dass Felix ihm folgte. Dem war die Singerei noch lästiger als seinem Vater, der sich immerhin einen großen Teil des Tages im Polizeirevier Westerland aufhalten durfte, während Felix dem Gesang seiner Schwester viel häufiger ausgesetzt war. Und hier hatte er kein Mittel, um sich dagegen zu wehren. Zu Hause erschlug er jedes Volkslied mit seiner Heavy-Metal-Musik, am Strand konnte er nichts anderes tun, als abzuwarten, bis das Lied zu Ende war.
Mamma Carlotta hatte nur Augen und Ohren für ihre Enkeltochter, trotzdem sagte Erik: „Ich schau mal da oben, im Dünengras. Ich glaube, da ist was.“
„Was soll da sein?“, fragte Felix, während er seinem Vater folgte.
„Nichts. Ich möchte nur ein paar Minuten meine Ruhe haben.“
„Ich auch.“
Erik lächelte. „Für dich kann es doch sonst gar nicht unruhig genug sein.“
„Ich kann Volkslieder nicht leiden.“
„Ehrlich gesagt, ich auch nicht.“
Mamma Carlotta reckte den Hals, wandte sich aber beruhigt wieder Carolin zu, als sie sicher sein konnte, dass Erik und Felix sich nicht heimlich davonmachen wollten. Sie mochte es nicht, wenn sich jemand absonderte und holte über kurz oder lang jeden in den Kreis der Familie zurück, der sich daraus entfernt hatte. Lange konnte es nicht dauern, bis sie nach ihnen rufen und vorwurfsvoll fragen würde, ob es etwa irgendwo etwas Wichtigeres gäbe als Carolins Gesangskarriere.
Erik blieb stehen, als er das erste Dünengras niedergetreten hatte. An der Wasserkante wurde mittlerweile im Duett gesungen, er war froh und dankbar, sich so weit von dieser Entgleisung entfernt zu haben, dass er notfalls behaupten konnte, das junge Mädchen und die italienische Signora überhaupt nicht zu kennen.
Er hätte es sich ja denken können, dass Mamma Carlotta von Carolins Sangesfreude im Nu angesteckt sein würde. Sie war Italienerin, und als solche sang sie von Natur aus gerne. Alle Italienerinnen liebten den Gesang, auch Lucia hatte häufig ein Lied auf den Lippen gehabt. Und im Haus ihrer Eltern in Umbrien hatte immer jemand gesungen, notfalls das Radio. Außerdem war Mamma Carlotta alles, was einem Enkelkind wichtig war, auf der Stelle mindestens genauso wichtig.
Felix stellte sich neben ihn und murmelte: „Ich bleibe dabei, dass ich Fußball-Profi werden will.“
„Sehr beruhigend“, antwortete Erik und hätte am liebsten ergänzt: Da kannst du wenigstens sicher sein, dass deine Großmutter nicht beim Training mitmachen will.
Das Beste an Felix‘ Vorsatz war, dass er auf einem Fußballplatz fern der eigenen vier Wände verfolgt wurde. Aber das ließ Erik natürlich unerwähnt.
„Wenn sie schon singen muss, dann wenigstens wie Madonna. Aber doch nicht wie Marianne“, nörgelte Felix.
„Marianne? Wer soll das sein?“
„Marianne und Michael! Die Stars der Volksmusik! Kennst du die nicht?“
Erik schüttelte den Kopf, obwohl ihn eine Ahnung anflog, dieses Paar schon einmal auf einer Titelseite gesehen zu haben. „Warum nimmt Carolin sich diese Marianne zum Vorbild, wenn sie keinen Michael hat, der mit ihr singt?“
Felix grinste. „Du merkst mal wieder gar nichts. Michael Ohlsen singt auch im Inselchor.“
Erik zog es vor zu schweigen. Er hatte das dumme Gefühl, dass er wissen musste, wer Michael Ohlsen war und dass es ihm keine Pluspunkte einbringen würde, wenn er gestand, dass er keine Ahnung hatte, um wen es sich handelte. Ach, Lucia! Sie hätte längst gemerkt, dass Carolin verliebt war, und natürlich hätte sie auch gewusst, wer Michael Ohlsen war. Erik seufzte unhörbar. Er musste wirklich mehr mit seinen Kindern reden, statt immer nur Felix‘ viele Worte an sich vorbeirauschen zu lassen und froh darüber zu sein, dass Carolin so wortkarg war wie er selbst.
Plötzlich spürte er so etwas wie Erleichterung in sich aufsteigen. „Wenn Carolin nur wegen diesem Michael im Inselchor singt, dann ist das doch was ganz anderes. Dann geht es ihr ja gar nicht um diese Volkslieder, sondern... na, eben um Michael Ohlsen.“
Er erinnerte sich, dass er sich selbst als Sechzehnjähriger zu einem Surfkurs angemeldet hatte, um einer gewissen Wiebke zu imponieren. Die Abmeldung schrieb er, noch ehe er die ersten zehn Mark für ein eigenes Surfbrett zur Seite legen und sich eingestehen konnte, dass ihm dieser Sport viel zu gefährlich war. Später war er froh, dass Wiebke an seiner Schwärmerei nicht interessiert gewesen war und sich einem Jungen zugewandte, der schon achtzehn war und ihr mit einem Motorrad imponieren konnte. So waren ihm vermutlich viele schmerzhafte Erfahrungen auf und vor allem unter Wasser erspart geblieben. Wenn man verliebt war, machte man die verrücktesten Sachen! Und wenn es sein musste, trat man eben auch einem Chor bei und sang Volkslieder. Aber da eine junge Liebe in diesem Alter selten länger als ein paar Wochen hielt, würde sich die Sache so schnell erledigt haben wie sein eigener Wunsch, das Surfen zu erlernen.
Felix jedoch blieb skeptisch. „Was soll dadurch anders sein? Kannst du dir vorstellen, was das für ein Typ ist? Ich will nicht, dass meine Schwester mit so einem geht.“
„Was ist denn mit Michael Ohlsen?“
„Der singt nicht nur gerne Volkslieder, der sieht auch noch aus wie Florian Silbereisen. Blonde Locken und immer ein Grinsen im Gesicht. Wenn wir in Bayern wohnten, würde der Lederhosen tragen.“
„Florian Silbereisen?“ Erik dachte verzweifelt nach. Musste er den auch kennen? Hatte er von einer Familie Silbereisen auf Sylt schon mal gehört?
Bevor er diese Frage beantwortet hatte, sorgte Felix selbst für Ablenkung: „Da liegt ein Schuh. Ein Männerschuh.“
Erik nickte geistesabwesend. „Ganz schön verrückt, sich im stacheligen Dünengras zu sonnen. Wer das tut, dem geschieht es ganz recht, später mit einem Schuh über die Friedrichstraße zu humpeln.“
Er stellte erleichtert fest, dass Carolin und Mamma Carlotta bei der letzten Strophe von „Wir lieben die Stürme“ angekommen waren. Nun schickten sie mit ausgebreiteten Armen den letzten Ton übers Meer und nahmen die Ovationen der Brandung entgegen.
„Warum sollte sich einer ins Dünengras legen, um sich zu sonnen?“, fragte Felix.
„Weil leider immer noch vielen Leuten der Dünenschutz völlig egal ist“, gab Erik zurück.
„Aber es ist doch gar nicht angenehm, im Dünengras zu liegen. Das sticht.“
Erik bewegte sich Richtung Wasserkante, weil Carolin und Mamma Carlotta erkennen ließen, dass sie den Strandspaziergang fortsetzen wollten, ohne sich so auffällig zu benehmen, dass man sich für sie schämen musste. „Was weiß ich! Vielleicht war auch jemand wütend auf seinen Freund und hat ihm seinen Schuh nachgeworfen.“
Er machte ein paar weitere Schritte im rutschigen Sand, da wusste er plötzlich, was das Schweigen in seinem Rücken zu bedeuten hatte. Wenn es Felix die Sprache verschlug, musste man sich Sorgen machen.
Erschrocken drehte er sich um und sah, dass sein Sohn die Düne mit ein paar weiteren Schritten erklommen hatte und nun vorgebeugt dastand. Die überdimensionale Jeans, die er trug, war noch weiter heruntergerutscht, als Felix es normalerweise beabsichtigte, die herausgestülpte karierte Unterhose nahm sich über dem Bund der Jeans grotesk aus. Als Felix sein Käppi in eine völlig uncoole Position schob, wusste Erik, dass etwas Außergewöhnliches geschehen sein musste. Etwas Schreckliches, Unvorstellbares! Und im selben Augenblick ahnte er, was es war.
Die Schrittnaht von Felix‘ Jeans baumelte wie immer zwischen seinen Kniekehlen, sonst hätte er den Mann zwischen den gespreizten Beinen seines Sohnes sehen können. Aber auch so erkannte er schnell, dass in dem Schuh, der Felix aufgefallen war, ein Bein steckte. Und dann sah er einen zweiten Schuh und ein zweites Bein. Ein weiterer Schritt, und der Mann lag ausgestreckt vor ihm.
„Das ist Arno Jesse“, sagte Felix mit zitternder Stimme. „Ist er tot?“
Erik schob seinen Sohn zur Seite und kniete sich neben Arno Jesse in den Sand. Dessen Gesicht war stark verschwollen, blau verfärbt die Augenpartie, die Lippen aufgeplatzt. Blut war aus der Nase getreten, auch in seinen Ohrmuscheln sah Erik verkrustetes Blut. Ein rotes Rinnsal war über die Schläfe gelaufen und auf dem Weg in den Sand vertrocknet. Kein Zweifel, der Besitzer der Wenningstädter Jesse-Stuben hatte eine schwere Schlägerei hinter sich.
„Ist er tot?“, wiederholte Felix mit ängstlicher Stimme.
Erik beugte sich über Jesses Brust, tastete nach seinem Puls und hob ein Augenlid. Dann schüttelte er den Kopf und zog sein Handy aus der Tasche. „Nein, er lebt noch. Wir müssen sofort Hilfe holen.“