Sturmflut“

Leseprobe

Sollte einst mein Herz
vom Baum des Lebens fallen
dann wünsch ich nur
es möge einen geben
der es aufhebt
und nach Hause trägt
und pressen wird
zwischen den Seiten
eines Buches
das oft gelesen wird.

Carlotta Capella schob die Zeitung ärgerlich zur Seite. Das sollte ein Gedicht sein? "Das reimt sich ja nicht mal." Sie faltete die Zeitung zusammen und begann, den Frühstückstisch abzuräumen. " "Moderne Lyrik! Madonna!" Sie schüttelte die Krümel von den Sets, als wollte sie die moderne Lyrik so lange schütteln, bis sie sich endlich reimen wollte.
Aber an diesem Morgen konnte es ihr sowieso niemand recht machen, die moderne Lyrik erst recht nicht. Käkeltje, die kleine, schwarze Katze der Familie Wolf, verzog sich erschrocken, als Teller und Tassen mit einem besorgniserregenden Geklapper in der Spülmaschine landeten, und das Besteck flog hinterher, als wollte Carlotta demnächst als Messerwerferin im Zirkus auftreten.

Die Marmelade fand den Weg in den Kühlschrank derart schwungvoll, dass das Glas auf dem Kopf zu stehen kam, die Butter folgte im Flug, aber zum Glück ohne Salto, die übriggebliebenen Panini sprangen in die Höhe, als der Korb, in dem sie lagen, auf die Anrichte geknallt wurde.
Leider war Carlottas Zorn danach noch immer nicht verraucht. Sie starrte das unbenutzte Gedeck an, das nach wie vor auf dem Tisch stand, überlegte, ob sie es wieder in den Schrank räumen sollte, um damit klarzustellen, dass die Frühstückzeit vorbei war, oder ob es Sinn hatte, einen weiteren pädagogischen Vorstoß zu wagen. Mindestens den zehnten wärend dieses Aufenthaltes auf Sylt. "Dio mio! So geht das nicht weiter!"
Sie wusste, dass ihre pädagogischen Fähigkeiten nicht imponierend, aber markant waren, wie es der Lehrer ihres Ältesten einmal vorsichtig formuliert hatte, und sie wusste auch, dass diese Fähigkeiten von einigen ihrer Angehörigen sogar schlichtweg geleugnet wurden. "Una impertinenza!" War es etwa keine Pädagogik, wenn sie ein braves Kind verhätschelte und einem unartigen unverhohlen drohte? Wenn sie einem ängstlichen Kind mit Süßigkeiten Mut zufütterte und einem kleinen Draufgänger den Sturz vom Apfelbaum mit voller Absicht nicht ersparte, damit er endlich merkte, wohin seine Tollkühnheit führte? Und schlechtes Benehmen nicht zur Kenntnis zu nehmen, wenn man seine Ruhe haben wollte, und mit minutenlangen Schimpfkanonaden zu bestrafen, wenn man schlechter Laune war, erschien Mamma Carlotta keineswegs unpädagogisch. Eher im Gegenteil. Ebenso wenig, dass sie es mal so und mal so hielt. Auf das Ergebnis kam es schließlich an. Ihre Kinder hatten jedenfalls gelernt, sich den Menschen, die von Bedeutung für sie waren, anzupassen, und das war zweifellos ein wichtiges pädagogisches Ziel. Damit war es gelungen, erzürnten Lehrern den Wind aus den Segeln zu nehmen, einen Ausbildungspatz zu retten und eine Versetzung in die nächste Klasse, mit der niemand mehr gerechnet hatte, doch noch zu erreichen. Eine gute Erziehung musste eine Vorbereitung auf das Leben sein! Und das Leben war nun mal nicht immer gleich. Mal wehte ein lauer, mal ein rauher Wind, mal musste man sich vor ihm in Sicherheit bringen und durfte ihn ein anderes Mal genießen oder sich von ihm treiben lassen. Wenn Kinder damit fertig wurden, war educazione gelungen. "Basta!"
Sie stieß die Tür zu Carolins Zimmer auf, achtete nicht darauf, dass ihre Enkelin erschrocken in die Höhe fuhr, ging ohne zu zögern zum Fenster und riss es auf. Der eiskalte Novemberwind, der ins Zimmer fuhr, war nach Mamma Carlottas Meinung genau richtig, um Flausen aus dem Kopf und Unternehmungsgeist hinein zu pusten, um Faulheit aufzuwirbeln, damit sie sich als Ameisenfleifl wieder herabsenken konnte.
"Bist du verrückt, Nonna? Mach das Fenster sofort zu!"