Vogelkoje

Leseprobe

Carlotta Cappella kannte sich aus. Die Anordnung der Stewardess „Bitte bleiben Sie so lange sitzen, bis die Anschnallzeichen über Ihnen erloschen sind“ musste man nicht unbedingt befolgen. Das war so wie Geschwindigkeitsbeschränkungen und Parkverbote in bella Italia: Sie dienten nur dazu, im Falle einer Gerichtsverhandlung zu einem schnellen Schuldspruch zu kommen. Früher hätte sie sich das niemals getraut, aber mittlerweile, nachdem sie mehr als zehnmal von Rom nach Hamburg geflogen war, löste sie trotz der Warnung der Flugbegleiterin genauso gleichmütig den Gurt wie die meisten anderen. Sie wusste nun auch, wie man zum richtigen Gepäckband kam, ohne zu fragen, und schaffte es sogar, niemanden an ihrer Sorge teilhaben zu lassen, das Gepäck könne in ein falsches Flugzeug geraten sein. Sogar den Ausgang fand sie, ohne zu zögern, und war nicht mehr darauf angewiesen, einem Mitpassagier unauffällig zu folgen, den sie für flugerfahren befunden hatte. Auf diese Weise war sie einmal vor der Tür der Herrentoilette gelandet und daraufhin zu der Ansicht gekommen, dass es Zeit wurde, sich unabhängig von fremder Hilfe zu machen. So unterschied sie sich mittlerweile, jedenfalls auf den ersten Blick, nicht mehr von den erfahrenen Geschäftsreisenden, die auf alles so abgebrüht reagierten, als wären sie nur zwei Stationen mit der Straßenbahn gefahren.  
  Das Schweigen dieser Vielflieger allerdings war nichts, was ihr imponierte. Schweigende Menschen mochte sie nicht, basta! Und die, die mit einem unsichtbaren Gesprächspartner redeten, dessen Stimme über Ohrstöpsel zu ihnen drang, ebenso wenig. Die Blasiertheit, mit der sich manche Fluggäste Distanz zu ihren Mitreisenden verschafften, war nicht ihr Ding. Nebeneinander am Gepäckband stehen und schweigend warten? Nein, nicht Carlotta Capella! Noch bevor der erste Koffer erschien, wusste die Frau, die neben ihr wartete, dass Carlottas Enkeltochter an diesem Tag achtzehn wurde. „Madonna, wie die Zeit vergeht!“ Auch dass sie keinen frühzeitigeren Flug gefunden hatte, der von ihrer schmalen Witwenrente zu bezahlen war, tat sie unüberhörbar kund. Und damit, dass sie eigentlich gern die Einkäufe für die kleine familiäre Feier am Abend selbst erledigt hätte und am liebsten so viel kochen würde, dass die ganze Nachbarschaft auch noch satt werden konnte, hielt sie ebenfalls nicht hinterm Berg. „Aber la famiglia auf Sylt ist ja klein. Nur mein Schwiegersohn und die beiden ragazzi. Zu Hause, in meinem Dorf, hätte es für mindestens zwanzig Familienangehörige reichen müssen.“
  Als die Frau höflich nickte, ihr Gepäck vom Band nahm und sich Richtung Ausgang begab, nahm sie sich den Nächsten vor. Der erfuhr, ob er wollte oder nicht, dass Carlotta Cappella aus dem kleinen umbrischen Dorf Panidomino stammte und ihre Tochter einen Deutschen geheiratet hatte, der Kriminalhauptkommissar auf Sylt war.
  „Madonna, diese Friesen! Wie meine Lucia die Einsilbigkeit ertragen hat, weiß ich wirklich nicht.“
  Dass Lucia nicht mehr lebte, weil sie einem Autounfall zum Opfer gefallen war, konnte sie gerade noch anbringen, doch als sie erzählen wollte, dass sie selbst schon mit sechzehn geheiratet und sieben Kinder zur Welt gebracht hatte, wankte mit einem Mal ihr eigener Koffer an ihr vorbei, und sie musste feststellen, dass sie vor lauter Reden gar nicht mehr aufs Gepäck geachtet hatte. Schnell griff sie zu, strich sich so energisch ihr Blümchenkleid glatt wie Geschäftsreisende ihre Krawatten, und richtete sich kerzengerade auf, wie es viele Männer taten, die auf einen Geschäftsfreund stoßen würden, der mit Würde beeindruckt werden sollte. Dann marschierte sie so energisch Richtung Ausgang, als werde sie bei einem Vorstandsmeeting erwartet. Ihre dunklen Locken wippten erwartungsvoll, ihre Augen sprühten.
Die Türen öffneten sich automatisch, wie ein schwerer Vorhang, und Carlotta Capella hatte ihren Auftritt auf der Bühne der Ankunftshalle, den sie wie immer genoss.