Gegenwind

Er hatte einen guten Start in Hörnum. Breitbrüstig, mit ausgestellten Ellenbogen, lief er los, und so würde er in Westerland an ihr vorbeiziehen. Er würde ihr zuwinken, ganz lässig, total cool, als machten ihm die 33,33 km nichts aus. Diesmal würde er durchhalten, dafür hatte er gesorgt. Niemand würde ihn Dicker nennen oder Schlappschwanz. Finisher würde er heute heißen. Und er würde ihr die Medaille zeigen, die man ihm in List um den Hals gehängt hatte. Dass sie in Westerland, in der Nähe der Konzertmuschel stand, wusste er. Vielleicht würde er kurz anhalten, vor ihr auf der Stelle laufen und sie ansprechen. „Hey, lange nicht gesehen!“ Und schon würde er an ihr vorbei sein, mit dynamischen Schritten weiterlaufen, und sie mit einer Menge Fragen zurücklassen …

Er schaute in den Himmel. Ein hellgrauer Schleier, hinter dem es eine kreisrunde Helligkeit gab. Die Sonne würde nicht hervorkommen, aber mit Regen war zum Glück nicht zu rechnen. Zwei Grad über null. Perfektes Laufwetter! Nur der Wind könnte Probleme bereiten. Er kam von vorn und sollte im Laufe des Tages auffrischen. Gegenwind war gefürchtet unter den Läufern.

Von Hörnum bis Westerland verlief die Strecke neben der Straße, auf dem breiten Fahrradweg. Dann kam der schönste Teil, über die Kurpromenade, an der Konzertmuschel vorbei, wo auf den steinernen Bänken, auf denen sonst die Leute saßen, wenn sie einem Konzert lauschten, nun die Zuschauer des Syltlaufs standen und jeden Läufer bejubelten. Bis zum Restaurant ´Seenot` ging es dann, ein Stück über die sandüberwehten Holzplanken, wo man leicht ausrutschen konnte, dann über den Fußweg auf Wenningstedt und Kampen zu. Dahinter kam die Einsamkeit, es würde gut sein, sich anderen Läufern anzuschließen. Und schließlich, auf der früheren Trasse der Inselbahn nach List, auf leicht ansteigender Strecke. Dieses letzte Stück würde das härteste sein.

Alles lief bestens. Morten Stöver hatte den Läufern geraten, bis Wenningstedt nicht an ihre Leistungsgrenze zu gehen, sonst würden sie später, wenn der Anstieg nach List begann, keine Reserven mehr haben. Daran hielt er sich, obwohl er sich unbesiegbar fühlte. Morten Stöver hatte ihnen auch eingeschärft, sie sollten in Gruppen laufen, wegen des Windes, aber diesen Rat beherzigte er nicht. Er war der einsame Kämpfer, der sich durchbiss! In einer Gruppe würde sie ihn womöglich übersehen, nur wenn er allein lief, konnte er sie auf sich aufmerksam machen.

Er hatte sich gut vorbereitet. Am Ende sollte niemand fragen: Wie kann ein Anfänger eine so gute Zeit laufen? Nein, er wusste, worauf es ankam. Er fand seinen optimalen Rhythmus und lief mit großen Schritten. Der richtige Rhythmus, darauf kam es an. Schweiß prickelte auf seiner Stirn, trotz der Kälte, sein Atem ging schwer, aber das machte nichts. Er war ohne Angst, er hatte vorgesorgt, er war mächtig, auf seinen Willen kam es an. Einzig und allein auf seinen Willen!

Am Stadtrand von Westerland fühlte er sich immer noch gut, sein Plan schien aufzugehen. Der Himmel war heller geworden, die Kälte stach nicht mehr zu, sie strich nur noch über die Haut. Aber der Schweiß, der vorher noch harmlos geprickelt hatte, lief ihm nun in die Augen. Er wischte ihn weg und kam prompt aus dem Gleichgewicht. Im Rhythmus bleiben, immer schön im Rhythmus bleiben! Zum Glück hatte er ihn schnell wiedergefunden, seine Schritte waren wieder lang, sein Rhythmus genau richtig. Er fixierte das Miramar, das vor ihm erschien, das Tor zum Einlaufen in die Promenade. Der Kilometer dahinter war der wichtigste seines Lebens.

Aber dann … der Wind kam plötzlich von der Seite, vom Meer, er hatte Schwierigkeiten, geradeaus zu laufen. Oder bildete er sich das nur ein? Er fühlte den Wind doch auf der anderen Stirn. Gegenwind! Was also drängte ihn nach rechts, als würde er vom Miramar angezogen? Die Konturen der Fenster verwischten mit einem Mal, der Kraftspender, die dicht gedrängte Zuschauermenge auf der Uferpromenade von Westerland, hatte auf ihn keine Wirkung. Die anderen dagegen zogen das Tempo an. Dort, wo die Presse stand und am lautesten gejubelt wurde, wollte jeder besonders dynamisch laufen, voller Zuversicht und Energie. Jeder wollte zeigen, dass er es schaffen würde. Er selbst wollte es auch. Vor allem, weil er dort mit ihr rechnen musste, für die er dieses Rennen machte. Dann wollte er lächeln und winken, vielleicht sogar einen kleinen übermütigen Hüpfer machen und sie zum Lachen bringen. Aber als die Trinkstation vor der Konzertmuschel in Sicht kam, veränderte sich alles. Die Umrisse der Gebäude verschwammen vor seinen Augen, die lachenden Menschen, rückten von ihm ab. Es war, als liefe er am äußersten Rand der Welt und könnte jeden Augenblick abstürzen ins Nichts. Was geschah mit ihm?

Noch liefen seine Füße wie von selbst, noch war sein Körper in Bewegung, aber bald wusste er nicht mehr, ob er sich das nur einbildete. Trat er in Wirklichkeit auf der Stelle? Bewegte er sich gar nicht mehr voran? Er kniff die Augen zusammen, weil er das Schwanken der Welt nicht mehr ertragen konnte, im selben Augenblick wurden die Geräusche schrill und so laut, dass er sich gern die Ohren zugehalten hätte. Aber er schaffte es nicht, die Hände zu heben. Er rang nach Atem und spürte, dass er am ganzen Körper zitterte. Musik hörte er nun, aufgeregte Stimmen und dann den Ruf einer Frau: „Avanti! Avanti!“

Diesen beiden Worten ließ er sich entgegenfallen. Sie klangen so, als könnten sie ihn halten und sogar wieder aufrichten. Avanti! Ein hoffnungsvolles Wort. Aber als dann dieselbe Stimme hervorstieß: „Madonna! Santa Mamma in cielo!“, da wusste er auf einmal, dass es vorbei war. Madonna! Das war kein hoffnungsvolles Wort, das war ein Wort, das ihn im Jenseits begrüßte. Er fühlte zwei Arme, die ihn auffingen, und dachte an die Arme, in die er sich gern geschmiegt hätte. Als er zu Boden glitt, hoffte er, dass sie um ihn trauern würde …

 

Für Sport hatte Carlotta Capella nichts übrig. Joggen, Nordic-Walking, Bodyforming oder Spinning? Niemals! Sie kannte diese Begriffe, denn ihre Enkelkinder waren Mitglieder des Sportvereins und klärten ihre Großmutter täglich darüber auf, wie man sich heutzutage in Form hielt. Sie sparten auch nicht mit Vorwürfen, weil sie sich standhaft weigerte, an ihrer Fitness zu arbeiten.

„Muskelaufbau, Nonna! Das ist in deinem Alter sehr wichtig. Sport ist gut gegen Osteoporose! Du wirst bald sechzig. Wenn du keinen Sport treibst, bekommst du einen Witwenbuckel.“

Carolin schwärmte neuerdings für Zumba, Felix war entschlossen, die kommenden Ferientage mit Frühsport am Strand zu beginnen und ging zudem zweimal wöchentlich zum Gewichtheben. Aber Carlotta schüttelte über solche Aktivitäten nur den Kopf. Wenn Carolin Freude an Musik und Bewegung hatte, warum stellte sie dann nicht das Radio auf die Terrasse und tanzte durch den Garten? Und warum trug Felix nicht die Getränkekisten von Feinkost Meyer nach Hause, wenn er seine Muskeln stärken wollte, statt sie von seinem Vater mit dem Auto befördern zu lassen? Mamma Carlotta verstand nicht, dass diese Vorschläge bei ihren Enkeln auf Ablehnung stießen.

In ihrem Dorf in Umbrien wurde nur ein einziger Sport praktiziert: Fußball. Doch er wurde nicht Sport, sondern Spiel genannt. Ihre Söhne hatten Fußball gespielt, wie alle Jungen ihres Dorfes, und natürlich lief der Fernseher, wenn ein wichtiges Turnier übertragen wurde. Aber eigentlich war Fußball kein Sport, sondern ein Freizeitvergnügen und dazu ein wichtiges Erziehungsmittel. Denn wenn die Jungs ins Flegelalter kamen, hatten sie viel überschüssige Kraft, die schließlich irgendwohin musste. Und da war Fußball ein besseres Ziel als zu frühe
Erfahrungen in der Liebe oder Wettläufe mit der Polizei. Fußball fand Mamma Carlottas Zustimmung. Aber dass jemand Laufschuhe anzog, um vom Süden der Insel in den Norden zu laufen und ständig auf seine Uhr starrte, um festzustellen, ob er gut in der Zeit lag und die Leistung aus dem Vorjahr steigern konnte, erschien ihr unsinnig. Sie war die Einzige, die die Sportler, die zum Syltlauf angetreten waren, kopfschüttelnd betrachtete, ohne das geringste Verständnis für ihren Ehrgeiz aufzubringen. Dennoch war sie bereit gewesen, sich für sie zu engagieren, weil ihre Enkel sie darum gebeten hatten. Mamma Carlotta war kein Mensch, der eine solche Bitte zurückwies.

„Alle Mitglieder des Sportvereins müssen mitanpacken, Nonna!“

Und da zusätzlich viele helfende Hände gebraucht wurden, hatte man auch die Angehörigen der Mitglieder rekrutiert. Etwa hundert ehrenamtliche Helfer waren erschienen, damit der Syltlauf so gut organisiert über die Bühne gehen konnte wie immer. Mittlerweile machte ihr die Sache sogar Spaß. Zwar war es kalt, und sie fror trotz Eriks dicker Jacke, die er ihr immer zur Verfügung stellte, wenn sie auf Sylt war, trotz Wollmütze und der Handschuhe, die sie trug, aber die vielen erwartungsvollen Menschen um sie herum, die Spannung, die in der Luft lag, Gelächter, ausgelassene Rufe, das alles gefiel ihr außerordentlich. Wie gut, dass viele Touristen an der Laufstrecke standen, die aus den Teilen Deutschlands stammten, wo laut gejubelt werden durfte, ohne dass man schief angesehen wurde. So wie es einer Italienerin passieren konnte, wenn sie sich allein unter Friesen befand. Ein paar Rheinländer stimmten sogar Schunkellieder an, was ihnen allerdings den Unmut eines Husumer Ehepaares einbrachte, das sich redlich mühte, mit versteinerten Mienen den ungebührlichen Frohsinn zu tadeln. Aber Rheinländer waren scheinbar so ähnlich wie Italiener. Sie ließen sich nicht davon abhalten, ihre Umwelt wissen zu lassen, dass sie sich freuten.

Bevor die ersten Läufer an der Versorgungsstation Westerland erwartet wurden, wanderte Mamma Carlotta ein wenig umher, um ihre kalten Füße zu wärmen und Ausschau nach Bekannten zu halten, mit denen sie über die schreckliche Kälte schwatzen und denen sie erzählen konnte, dass in Umbrien längst der Frühling eingezogen war. Als sie zum ersten Mal im Winter auf Sylt gewesen war, hatte sie sich gefragt, wie ihre Tochter diese Kälte hatte ertragen können, nun aber hatte sie längst die Erfahrung gemacht, dass der eisige Wind und die Luft, die so kalt war, dass das Atmen wehtat, lebendig und belebend war, wie es der laue Winter in Italien nie sein konnte. Lucia hatte ihr oft erzählt, wie es war, durchgefroren vom Strand zurückzukehren, mit Fingerspitzen, die trotz dicker Handschuhe gefühllos geworden waren, mit Augen, die vom Wind tränten, und einer eiskalten Nasenspitze. Mamma Carlotta hatte sich trotzdem nicht vorstellen können, dass beißende Kälte im Winter und sommerliche Wärme, die wie ein italienischer Herbst war, eine Frau glücklich machen konnte, die an Sonne und Hitze gewöhnt war. Jetzt wusste sie es. Schade, dass sie es Lucia nicht mehr sagen konnte.

Gegenüber des Strandaufgangs zur Sylter Welle hatte Tove Griess seinen Stand aufgebaut. Unter dem Dach eines weißen Pavillons grillte er seine Bratwürste, die jetzt, kurz nach zehn, noch keinen reißenden Absatz fanden. Um diese Zeit deckten sich die Zuschauer des Syltlaufs lieber an der Crêperie ein, die unterhalb des Strandübergangs Friedrichstraße lag, wo es auch heiße Getränke gab. Aber in ein bis zwei Stunden würde Tove Griess viel zu tun haben. Der cholerische Wirt von Käptens Kajüte, der schmuddeligen Imbissstube am Hochkamp, war verblüfft gewesen, dass er diesmal tatsächlich die Konzession erhalten hatte, auf der Kurpromenade einen Stand aufzubauen. Bisher war sein Antrag Jahr für Jahr abschlägig beschieden worden, aber diesmal würde er endlich einmal mit voller Kasse den Tag beenden. Auch deswegen, weil er auf Personal verzichtete und stattdessen den Strandwärter Fietje Tiensch angeheuert hatte, seinen einzigen Freund, obwohl beide vehement bestritten, mit dem anderen in Freundschaft verbunden zu sein. Nein, auf Nachfrage hätte jeder der beiden behauptet, den anderen nicht leiden zu können. Dass Fietje Tiensch dem Wirt von Käptens Kajüte an diesem Tag half, hatte angeblich nichts, aber rein gar nichts mit freundschaftlichen Gefühlen zu tun. Es ging nur darum, dass Tove Personalkosten einsparte und Fietje sein Bier umsonst bekam. Ihm, dem einzigen Stammgast in Käptens Kajüte, reichte die Bezahlung in Form von Freibier, er war mit dieser Regelung genauso zufrieden wie Tove selbst.

„Moin, Signora“, begrüßte der Wirt die Schwiegermutter des Kriminalhauptkommissars. Er wendete die Bratwürste mit einem Eifer, den sie sonst nie erlebte, und auch Fietje Tiensch gab sein Bestes und spülte die Gläser in einem Tempo, das er bisher für gesundheitsschädlich gehalten hätte. Tove musste ihm sehr viel Freibier versprochen haben, wenn Fietje sich derart engagierte. Gelegentlich rutschte ihm vor lauter Eifer sogar die Bommelmütze vom Kopf, und sein dünner Bart flog im Wind und blieb an den feuchten Gläsern hängen.

„Wollen Sie eine Wurst?“, fragte Tove Griess und bleckte sein Gebiss, womit er ein Lächeln andeutete, das jedes zartbesaitete Kleinkind in die Arme seiner Mutter getrieben hätte. Seine Brauen schienen an diesem Tag noch dichter zu sein, seine Stirn wölbte sich noch weiter vor, die Augen waren kaum zu erkennen. Das lag wohl daran, dass die Kappe, die er trug, sein Gesicht zusammendrückte, das ohnehin die Neigung hatte, sich in den negativen Gefühlen, die Tove Griess zu Hauf produzierte, zu zerknautschen. Bei dem Wirt von Käptens Kajüte konnte ein Lachen dieselbe optische Wirkung haben wie ein Wutausbruch.

Auf die Kappe war er stolz. „Habe ich extra anfertigen lassen“, verkündete er und wies auf die Buchstaben, die über seiner Stirn prangten.

„Käpten Tove”, las Mamma Carlotta. „Waren Sie wirklich mal un capitano?“

„Aber sowas von! Bis mein Kahn gesunken ist. Das war vor Gibraltar.“

Fietje Tiensch mischte sich ein. „Da hat er sich schwimmend an Land gerettet, während der Rest der Mannschaft abgesoffen ist. Das wissen Sie doch, Signora. Das hat er Ihnen schon hundertmal erzählt.“ Er warf Tove einen geringschätzigen Blick zu. „Wahrer wird es deswegen nicht.“

„Willst du behaupten, ich hätte mir das nur ausgedacht?“

Fietje Tiensch mochte keine direkten Fragen, die direkte Antworten erforderten. Er überlegte noch, was er entgegnen könnte, ohne von Tove auf der Stelle gefeuert zu werden, da erschien Kundschaft und nötigte Fietje Tiensch, der noch nie ein Feinmotoriker gewesen war, das Maximale ab. Er hatte Tove einen Pappteller hinzuhalten, damit der eine Bratwurst dort platzierte. Nun war es Fietjes Aufgabe, eine Scheibe Brot daneben zu legen und sich bei dem Gast nach der gewünschten Beilage zu erkundigen. „Senf oder Ketchup?“

Senf sollte als anmutiger Klecks, Ketchup als Zickzack-Ornament auf der Wurst serviert werden. Sowas erforderte äußerste Konzentration. Fietje konnte, während er diese Aufgabe erledigte, unmöglich noch kniffelige Fragen beantworten.

Tove betrachtete seine Anstrengungen mit misstrauischem Blick, was nicht zu Fietjes sicherer Handhabung der Ketchupflasche beitrug. Mamma Carlotta beschloss daher, Tove Griess von den Bemühungen des Strandwärters abzulenken. „Haben Sie auch den Rotwein aus Montepulciano am Stand?“

„Sicher doch, Signora!“ Tove griff in eine Kiste und hielt eine Flasche in die Höhe. „Der ist gut gegen die Kälte.“

Das ließ Mamma Carlotta sich gerne einreden, die für Alkoholgenuss am helllichten Tage immer einen guten Grund benötigte. Sie trank einen Schluck, fand, dass Tove recht hatte, fühlte sich umgehend angenehm erwärmt und trat einen Schritt zur Seite, damit ihr der Blick aufs Meer nicht verstellt war. Es war an diesem Tag so grau wie der feuchte Sand, nachdem eine auslaufende Welle sich zurückgezogen und eine Gischtspur hinterlassen hatte. Die Augen auf den Horizont gerichtet, erzählte sie Tove und Fietje, dass sie am Abend zuvor sogar bei der Nudelparty im Westerländer Congress-Centrum dabei gewesen war. „Kohlehydrate“, brachte sie mühsam heraus, stolz auf diese komplizierte Erweiterung ihres Sprachschatzes. „Sowas brauchen Sportler.“

Mit großem Enthusiasmus hatte sie die Tomatensoße auf die Nudeln gegeben und erzählte nun Tove Griess und Fietje Tiensch, dass sich sogar der Gewinner des vorjährigen Syltlaufs von ihr hatte bedienen lassen. Eigentlich wollte sie noch anfügen, dass die Tomatensoße, die in ihrer eigenen Küche entstand, um ein Vielfaches besser sei, da ertönten mit einem Mal laute Rufe.

„Dio mio! Der erste Läufer kommt!“

Mamma Carlotta kippte den Rotwein hinunter, vergaß das Bezahlen und hastete zur Versorgungsstation zurück, wo die großen Platten mit den Bananenstücken soeben durch winzige Schaumküsse erweitert worden waren, die früher mal Negerküsse genannt werden durften. Wenn der Spitzenläufer erschienen war, würden bald weitere folgen, und dann musste sie zur Stelle sein.

Schon eine halbe Stunde später war aus dem Warten fröhlicher Trubel geworden. Jeder Läufer, der auf der Uferpromenade erschien, wurde mit Applaus und Anfeuerungsrufen begrüßt. Mamma Carlotta hielt ihnen Becher hin, die mit warmen und kalten isotonischen Getränken oder mit Wasser gefüllt waren, und wünschte jedem, der danach griff, mit großer Herzlichkeit Erfolg. Sie hatte gehört, was Fritz Nikkelsen, einer der Organisatoren des Syltlaufs, einem Sportler zugerufen hatte und gab dessen Worte nun weiter, wo es ihr nötig erschien. „Langsam anfangen! Nicht zu früh die Kräfte verpulvern! Auf dem letzten Stück gibt es starken Gegenwind!“

Manchem Läufer mochte sie wie eine Expertin vorkommen. Tatsächlich war sie trotz ihrer fast sechzig Jahre noch flott auf den Beinen, nach eigener Einschätzung sogar flotter als mancher, der sich stöhnend an ihr vorbeischleppte, aber sie wäre niemals auf die Idee gekommen, bei diesem Sport-Event mitzumachen, obwohl es ihr durchaus unterhaltsam erschien. Das hatte sie Fritz Nikkelsen, einem drahtigen Sechzigjährigen, ausgiebig erläutert, der sich ihr immer wieder näherte, als wollte er sie für den Sport und speziell für den nächsten Syltlauf gewinnen. Er selbst war einmal ein guter und erfolgreicher Läufer gewesen, bis er nach einer Knieverletzung das Laufen an den Nagel gehängt hatte und seine Erfahrungen in die Organisation des Syltlaufs einbrachte.

Er neigte sich jedesmal an Carlottas Ohr, wenn er mit ihr sprach, als müsste er sich gegen großen Lärm durchsetzen, sie aber hatte längst erkannt, dass es ihm um die Nähe zu ihr ging. Wenn sie auch längst aus dem Alter heraus war, in dem ein Flirt infrage kam, und viel zu früh geheiratet hatte, um Erfahrungen im Verliebtsein zu bekommen, als Italienerin merkte sie sofort, wenn Amore im Spiel war oder etwas, was so aussehen sollte wie Amore.

„Sie würden eine wunderbare Läuferin abgeben“, hatte Nikkelsen noch vor einer halben Stunde behauptet und ihr gezeigt, wie sehr ihm ihr helles Lachen gefiel.

Nein, Carlotta Capella lief nur aus einem einzigen Grund: um zu einem Ziel zu gelangen. Dann bummelte sie, wenn sie Zeit hatte, lief schnell, wenn sie dringend Mandeln fürs Dolce brauchte, oder rannte wie der Teufel, wenn sie den Doktor zu einem Kind holen musste, das vom Baum gefallen war. Laufen, weil es Sport genannt wurde und weil Sport angeblich gesund war und mit einem straffen Körper belohnt wurde? Darüber konnte sie nur lachen und erklärte Fritz Nikkelsen ausführlich ihre Abneigung gegen jede Art sportlicher Betätigung. In ihrem Dorf musste sie die Einkäufe eine steile Gasse hochtragen, das ersetzte jedes Krafttraining. Wenn sie Apfelkuchen backen wollte, musste sie vorher in den Baum steigen und sich für jedes Kraut, das sie in der Küche brauchte, tief über ein Beet beugen. Ausdauertraining hatte sie damit also auch. Ganz zu schweigen von der Jagd nach den Hühnern, wenn sie sich nicht schlachten lassen wollten, und nach den kleinen Enkelkindern, wenn sie Gefahr liefen, vor den Trecker des nächsten Weinbauern zu geraten. Wer wie sie den ganzen Tag in Bewegung war, der brauchte keinen Sport.

„Ciao, Sören!“ Sie freute sich, als sie den Mitarbeiter ihres Schwiegersohns entdeckte, der freundlich winkte, als er sie erkannte. Fremd war er ihr mit seiner eng anliegenden Laufkleidung und dem Stirnband, das sein rundes Gesicht noch runder machte. „Buona fortuna! Viel Erfolg!“

Sören Kretschmer, der junge Kommissar vom Polizeirevier Westerland, dankte ihr mit einem Handzeichen und winkte auch Carlottas Enkelin Carolin zu, die mit ihrer Klassenkameradin Ida hundert Meter weiter stand. 

Mamma Carlotta gefiel der Syltlauf immer besser. Es gab viele, denen sie zurufen konnte, weil sie mittlerweile auf Sylt gut bekannt war. „Avanti! Avanti!“

Der Bäcker von Wenningstedt, der schon jetzt einen roten Kopf hatte und stark schwitzte, dankte ihr mit einem verkrampften Lächeln, der Leiter der Obst- und Gemüseabteilung von Feinkost Meyer ließ sich durch ihren Ruf aus seiner Lauflethargie aufschrecken, die Apothekerin, die trotz ihrer Leibesfülle erstaunlich behände lief, winkte sogar zurück. Mamma Carlotta hatte gerade dem jungen Mädchen einen Gruß zugerufen, das ihr am Tag zuvor auf dem Trödelmarkt vorm Westerländer Rathaus ein Spitzendeckchen verkauft hatte, da wurde sie auf den Jungen aufmerksam, der schwankend näherkam, von den anderen Läufern ignoriert oder sogar unwillig zur Seite geschoben, damit er überholt werden konnte. Seine Beine bewegten sich, als wären sie aufgezogen, den Kopf ließ er hängen, die Arme baumelten an der Seite. Er schien zu laufen, ohne zu wissen, was er tat. Und schließlich stolperte er und fiel vornüber, ohne etwas zu tun, um den Sturz zu verhindern oder wenigstens abzufangen. Doch zum Glück fiel er weich. Direkt in Mamma Carlottas Arme …