Sturm über Sylt
ein historischer Roman
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Es war so wie vor zehn Jahren. Der Himmel war genauso blass und durchscheinend, zarte Wolkenschleier verhüllten die Sonne, die nur ein heller Fleck war, von dem keine Wärme ausging. Ein kühler Sommertag! Der Wind hatte auch damals beinahe still gestanden, so wie heute. Er war da, bewegte sich über dem Schiff hin und her, nahm seine Kraft aber nicht aus den Wolken, sondern aus der Fahrt des Raddampfers. Die Geschwindigkeit des Fortbewegens war es, die die Windstärke bestimmte! Aus dem Sturm, der noch vor zwei Wochen gewütet hatte, war dieser kraftlose Fahrtwind geworden. Auf der Insel würde es womöglich windstill sein. Eine Seltenheit! Damals war es ihr vorgekommen, als wollte der Wind sie nicht von ihrer Heimat wegtreiben, jetzt kam es ihr so vor, als wollte er sie nicht willkommen heißen. Oder sollte sie die Angst vor der Rückkehr verlieren, zu der es eigentlich nie hatte kommen sollen?
Sie spürte, dass Ludwig hinter sie trat. Aber sie veränderte ihre Haltung nicht, blieb an die Reling gelehnt stehen und drehte sich nicht um. Sie zeigte ihm nur, dass ihr seine Nähe guttat, indem sie leise seufzte.
Aletta Lornsen war eine mittelgroße Frau, schlank, aber nicht zierlich, sondern von kräftiger Statur. Sie hatte braune Haare, in die die Sonne manchmal blonde Tupfer setzte und die bei Dunkelheit und wenn sie straff zurückgekämmt waren, fast schwarz wirkten. Ihr Gesicht war schmal, ohne zart zu sein, die Nase winzig, ihre Wangen waren flach wie die einer Rekonvaleszentin, die gerade wieder zu Kräften kommt. Doch ihr Mund war breit und lachend, ihre Lippen waren voll und verlockend, die Stirn prägte sich über starken Brauen aus, sodass sie stark und gesund aussah, wenn es ihr gutging, aber auch elend und sterbenskrank wirken konnte, wenn es schwere Tage gab. Ihre Augen waren von einem stumpfen Grau, trugen aber braune und grüne Splitter, die sie interessant und ihren Blick sogar ein wenig rätselhaft machten.
Ludwig sagte oft: „Bei dir hat die Natur nicht gewusst, was sie wollte. An einem Tag solltest du ein zartes, elfengleiches Wesen werden, am anderen eine Frau, die ihren Mann stehen kann. Und am Ende bist du beides geworden.“
Er legte ihr die warme Stola um und umschlang sie mit beiden Armen, um sie zu wärmen. „Freust du dich auf Sylt?“
Aletta wollte nicken und den Kopf schütteln, gleichgültig die Schultern zucken und die Mundwinkel verächtlich herabziehen, alles auf einmal. Aber ihr gelang weder das eine noch das andere. Vorfreude und Angst, Schuldgefühle und Selbstzufriedenheit hielten sich die Waage. Ludwigs Frage war nicht zu beantworten.
„Hoffentlich ist das Hotel komfortabel“, sagte sie stattdessen.
Sie spürte, dass Ludwig lächelte. „Das Miramar ist das erste Haus am Platz.“
„Die Sturmflut von 1909 soll es schwer ramponiert haben.“
„Das ist fünf Jahre her. Und nicht das Hotel wurde beschädigt, sondern die Düne vor dem Hotel. Sie wurde von dem Sturm weggefegt. Da sieht man, wie leichtsinnig es ist, so nah am Meer zu bauen.“
Aletta merkte, wie gut es ihr tat, über etwas so Sachliches wie den Bau des Miramar zu reden. Sie atmete tief ein, richtete ihren Oberkörper auf, baute ihre Stütze auf, als müsste sie sich schon jetzt auf ihr Konzert vorbereiten. In den Jahreszahlen fühlte sie sich sicher, in den Debatten über den Dünenschutz auch, und über vergangene Sturmfluten redete sie gern, wenn sie über Sylt sprechen wollte und Sehnsucht nach ihrer Insel hatte. Nur über die Menschen, auf die sie in den nächsten Tagen treffen würde, redete sie nicht. Ludwig blieb immer wieder ohne Antwort, wenn er sie fragte, was ihr diese Rückkehr nach Sylt bedeutete. Mittlerweile hatte er sich damit abgefunden, dass er mit Aletta, wenn sie Heimweh hatte, über die Sturmfluten von 1909 reden musste, über den Brand der Kaiserhalle im September 1911 und die im Oktober folgende Sturmflut, die die gesamten Strandanlagen ins Meer gerissen hatte.
„Der Besitzer des Miramar hat eine Strandmauer bauen lassen“, sagte er, drängte sich dicht an Aletta heran und legte sein Kinn auf ihre Schulter. „Jetzt kann nichts mehr passieren. Keine noch so schwere Sturmflut kann der Strandmauer etwas anhaben.“
Seine Stimme klang zuversichtlich, aber Aletta wusste, dass er sich zum Optimismus zwang. Gegen die Naturgewalten mochte Sylt sich gewappnet haben, aber was war mit der Gewalt von kriegerischen Auseinandersetzungen? Ludwig hatte sie seit der Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand und seiner Frau Sophia mehr als einmal bedrängt: „Fahr nach Sylt! Versöhn dich mit deiner Familie! Wenn du es wirklich willst, dann zögere nicht mehr! Jetzt ist der richtige Zeitpunkt! Wer weiß, was kommt!“
Und so war dem Kurdirektor die Nachricht zugegangen, dass man die letzte seiner unzähligen Einladungen nun endlich annehmen wolle. Allerdings unverzüglich! Westerland musste die Vorbereitungen auf das große Ereignis, das Konzert von Aletta Lornsen, in größter Eile treffen.
1904 war sie noch mit dem Plattbodensegler übers Watt gefahren. An Veras Seite! Gemeinsam hatten sie sich auf den Boden gekauert, Aletta mit dem Rücken zur Insel, mit dem Blick zum Festland, ihre Vergangenheit im Rücken, ihre Zukunft vor Augen. Und Vera hatte immer wieder gesagt: „Du musst sie zwingen. Irgendwann werden sie sich zwingen lassen.“
Wenn Aletta die Tränen gekommen waren, hatte sie in die Segel gesehen, auf das große „S“ geblickt, das jedes Segel trug, das „S“, das für „Sylt“ stand. Aber wenn sie der Tränen Herr geworden war, hatte sie wieder vorausgeschaut. Und Vera hatte erneut gesagt: „Es ist richtig, dass du sie zwingst. Es geht nicht anders.“
Die Plattbodensegler waren mittlerweile von den Raddampfern abgelöst worden. Von Hamburg nach Hörnum fuhr seit 1905 sogar das große Turbinenschiff „Kaiser“, das für sage und schreibe zweitausend Decksgäste zugelassen war. Aber so viel Neues hatte Aletta nicht gewollt, so viel sollte sich nicht geändert haben seit ihrer Flucht von Sylt. Der Raddampfer war Fortschritt genug. Er näherte sich der Insel langsam und schwerfällig, wie es für sie richtig war, die beiden Schaufelräder links und rechts des Schiffskörpers mühten sich geräuschvoll ab. Es war ein urwüchsiges Vorankommen, nicht so zielstrebig wie auf der „Kaiser“, langsamer, schwerfälliger, aber doch unbeirrt. Das flache, breite Schiff, das durch die Schaufelräder noch breiter erschien, als es war, hatte Aletta sofort Vertrauen eingeflößt. Auch dass der Kapitän sich nicht in einem Steuerhaus verbarg, um seine Arbeit von den Passagieren abgeschirmt zu verrichten, gefiel ihr. Dieses Schiff wurde von der Brücke aus geführt, die nicht nur so genannt wurde, sondern wirklich eine war. Sie reichte von Steuerbord nach Backbord, von einem Radkasten zum anderen und führte über die Köpfe der Passagiere hinweg. Dort stand der Kapitän, Wind und Wetter noch schutzloser ausgesetzt als die Passagiere. Wenn das Wetter jedoch gut war, ruhig und trocken so wie an diesem Tag, dachte jeder nur daran, wie einfach die Fahrt geworden war, seit die Plattbodensegler aus dem Dienst genommen worden waren.
Die Reise nach Sylt war auch in anderer Hinsicht bequemer geworden. Es gab nun durchgängige Bäderzüge von Altona nach Hoyer, der Kutschenbetrieb war völlig eingestellt worden. Schon nach gut vier Stunden war man von Hamburg in Hoyer-Schleuse angekommen, wo die Raddampfer ablegten. Allerdings fuhren sie tideabhängig, nur einmal, höchstens zweimal täglich, und nur bei Tageslicht. Doch Ludwig hatte die Reise gut geplant und dafür gesorgt, dass sie in Hoyer nur eine knappe Stunde zu warten brauchten, bis sie den Raddampfer besteigen konnten. Eineinhalb Stunden dauerte die Überfahrt nach Munkmarsch, zu wenig Zeit, um die Vergangenheit hinter sich zu lassen, die sich mit dem Entschluss, diese Reise zu wagen, erneut vor Aletta erhoben hatte. So, als hätte ihre Vergangenheit nur in einer Ecke ihres Lebens heimlich auf diesen Tag gewartet, obwohl Aletta geglaubt hatte, dass sie ihre Kindheit und Jugend längst vor die Tür ihres neuen Lebens gesetzt hatte.
Ihr Körper versteifte sich, als die Mole von Munkmarsch in Sicht kam. Sie wickelte den fliederfarbenen Seidenschal fester um den Hals, den sie von Ludwig zur Premiere von Fidelio geschenkt bekommen hatte und der seitdem ihre Stimme wärmte, wie sie es nannte. Ludwig begann ihre Arme zu streicheln und sanft ihren Nacken zu kneten, aber ihre Haltung veränderte sich nicht, während sie den Menschen, die sich auf der Mole drängten, entgegensah. Sie blieb angespannt.
„Sie werden nicht kommen“, flüsterte Ludwig. „Vielleicht zum Bahnhof, aber sicherlich nicht nach Munkmarsch.“
Ob er Recht hatte? Aletta hoffte sogar, dass sie auch am Ende der Inselbahnfahrt nicht auf sie warteten. Wirklich auf Sylt angekommen sein würde sie erst, wenn das Konzert vorbei war. Wenn sie ihren Triumph gefeiert hatte! Wenn alle einsehen mussten, dass sie damals richtig gehandelt, dass sie gar nicht anders gekonnt hatte! Wenn sie es mit eigenen Augen gesehen und mit eigenen Ohren gehört hatten. Alle! Jetzt fühlte sie sich noch klein und schwach, dann erst würde sie ihrer Familie unverwundbar entgegentreten können. Die Eltern würde sie zwingen, stolz auf sie zu sein, und Insa würde sie zwingen, zu lächeln und etwas Anerkennendes zu sagen.
Wieder sprach sie sich unhörbar vor, was Vera ihr schon vor zehn Jahren eingeprägt hatte: „Du musst sie zwingen! Und glaub mir, sie werden sich zwingen lassen.“
Ach, Vera! Sie hätte sich nicht ausmalen können, was danach geschah …