DIE TOTE AM WATT
Verlag | Piper-Verlag
Erscheinungsdatum | Mai 2007
LESEPROBE:
Für Carlotta Capella führte nur ein Weg nach Rom. Den Berg hinab und dann lange geradeaus. So lange, bis Pornello hinter ihr lag, wo Verwandte der Capellas wohnten, für deren Besuch Carlotta dreimal ihr Dorf verlassen hatte. Nach Pornello musste sie sich von den vertrauten Pfaden trennen und stieß vor in die Wüste unbekannter Häuser, Straßen und Ortsnamen.
Als die ersten Verkehrsschilder zur A 1 wiesen, wurde Mamma Carlotta nervös und fragte ihren Sohn immer wieder, ob sie auch wirklich pünktlich am Flughafen ankommen würden. Guido versicherte es ein ums andere Mal, aber seiner Mutter entging nicht, dass auch er immer unruhiger wurde und das Lenkrad immer fester umklammerte.
Als sie bei Orvieto auf die Autobahn fuhren, begann Mamma Carlotta, ihr Blümchenkleid glatt zu streichen, das sie sich extra für diese Reise genäht hatte, und als der Verkehr vor Rom immer dichter wurde, zupfte sie an ihrer neuen Lockenfrisur herum, bis die ganze Pracht, an der ihre Schwiegertochter stundenlang gearbeitet hatte, zum Teufel war. Als der Petersdom in Sicht kam, bereute sie, dass sie den Rosenkranz in den Koffer und nicht in ihre Handtasche gesteckt hatte.
Sie griff nach Guidos Hand, der sie nur ungern vom Lenkrad löste, ließ sie aber schnell wieder los, als sie sah, dass die Augen ihres Ältesten sich mit Tränen füllten.
„Erik hat mich eingeladen“, rechtfertigte sie sich ein weiteres Mal. „Und ich muss doch einmal an Lucias Grab beten.“
Guido nickte und wechselte auf die rechte Spur, wo gerade ein schnittiger Alpha Romeo mit einem haarsträubenden Manöver seinen klapprigen Lieferwagen überholen wollte. Das gefährliche Bremsmanöver, die quietschenden Reifen und das schrille Hupen bekam Guido nicht mit, der sich in emotionalen Momenten immer nur auf eine Sache konzentrieren konnte: auf das Zurückdrängen seiner Tränen. Denn ein Italiener, der in seinem umbrischen Dorf sogar als einer der Stärksten galt, durfte doch nicht weinen wie ein schwaches Weib. Also zuckelte er von nun an mit einer Geschwindigkeit dahin, die auf der A 1 einen Ausnahmezustand hervorrief und Mamma Carlotta schrecklich nervös machte.
„Lucia ist nach Deutschland gegangen, um zu sterben“, brachte Guido schließlich mit zitternder Stimme hervor.
Seine Mutter machte ihn mit sanften Worten darauf aufmerksam, dass seine Schwester nicht explizit zu diesem Zweck nach Deutschland gezogen war, dass nur bedauerlicherweise ihr Leben dort geendet hatte. Trotz der seit Tagen in ihr schwelenden Angst vor der eigenen Courage versuchte sie, Guido davon zu überzeugen, dass nicht jede Reise nach Deutschland notgedrungen mit dem Tod enden müsse.
Ihre nervösen Erklärungen machten Guido jedoch nur noch verzweifelter und als Mamma Carlotta die Stimme versagte, sah er sich gezwungen, seinen Lieferwagen auf den nächsten Parkplatz zu lenken, wo die beiden ganz in Ruhe und gefahrlos ein bisschen weinen konnten.
„Ob Papa das gewollt hätte?“, fragte Guido, als er den ersten Gang wieder einlegte.
Mama Carlotta wusste, was er meinte. Nein, Dino wäre sicherlich nicht damit einverstanden gewesen, dass seine Frau allein in den kalten Norden reiste. Aber Dino Capella war tot und seine Witwe hatte kurz darauf beschlossen, dass nun die Zeit gekommen war, eigene Entscheidungen zu treffen. Mamma Carlotta hatte mit sechzehn geheiratet, sieben Kinder bekommen und mit der Pflege ihres schwer kranken Mannes begonnen, noch ehe das jüngste Kind aus den Windeln heraus war. Alles, wirklich alles hatte sie getan, was von ihr erwartet worden war. Tag für Tag und bald auch Nacht für Nacht hatte sie an Dinos Bett gesessen, hatte darauf verzichten müssen, Lucia in ihrer neuen Heimat zu besuchen, und war sogar, als ihre Tochter beerdigt wurde, an der Seite ihres Mannes geblieben, weil Dino keinen einzigen Tag ohne sie auskommen konnte. Sie hatte sich in tiefschwarze Kleidung gehüllt, als er starb, und ihr Bestes getan, die Erleichterung über das Ende der ehelichen Pflichten nicht über die angemessene Trauer siegen zu lassen. Aber dann hatte sie sich ganz langsam wieder an das Glück gewöhnt. An das Glück, eine Nacht durchschlafen zu können, ohne von einem stöhnenden Kranken geweckt zu werden, an das Glück, mit ihren Enkeln zu spielen, ohne von einem stöhnenden Mann ins Haus zurück geholt zu werden, und der Sonne beim Untergehen zuzusehen, ohne die Angst, zu lange auf das Stöhnen gewartet zu haben. Und mit ihren Kindern hatte sie wieder Gespräche geführt, die über die Zeit bis zum nächsten Umbetten, zur nächsten Medikamentengabe, zum nächsten Füttern und Einflößen hinausgehen durften.