SCHLAFENDE HUNDE
Verlag | Emons-Verlag Köln
Erscheinungsdatum | 2003<
LESEPROBE:
Die Landschaft flog am Zugfenster vorbei. Allmählich wich die eindrucksvolle Weite des Nordens - die so unerschöpflich und endlos war wie das nahe gelegene Meer - hausbackener Gemütlichkeit. Niedrige Gehöfte blickten aus drallem Buschwerk heraus, hin und wieder unterbrachen Waldstücke das Karree der ordentlich zusammengefügten Felder und Wiesen, durch die kerzengerade Wege liefen. Dazwischen Dörfer, die außer Kirche und Kneipe nicht viel zu bieten hatten. Kein Fabrikschornstein, keine Leuchtreklame, nichts, was die Dorfkirche überragte und dem ansässigen Pfarrer Sorgenfalten auf die Stirn treiben konnte. Im Gegenteil, die Bebauung duckte sich fromm in den Schatten des Kirchturms und wurde nur am Ortsrand weitschweifiger. Aber auch da bildeten akkurat eingefasste Gärten einen makellosen Saum. Man sah den Einfamilienhäusern von weitem die gewissenhafte Hausfrau an, die am Freitag die Betten bezog und samstags den Bürgersteig fegte.
"Westfalen", sagte der Hamburger spöttisch, der Karla gegenübersaß. "Langweilig und spießig."
"Warte ab, wenn Münster erst hinter uns liegt", sagte seine Frau. "Die Fahrt am Rhein entlang ... das ist romantisch."
"Im Münsterland möchte ich nicht begraben sein", legte ihr Gatte nach, der direkter Nachfahre irgendeines vornehmen hanseatischen Geschlechts zu sein schien.
Karla spürte, wie der Zorn in ihr hoch kochte. Wenn sie auch, solange sie in Hamburg gelebt hatte, ähnlich über Münster und seine provinzielle Umgebung gesprochen hatte, so hieß das noch lange nicht, dass sich irgendein arroganter norddeutscher Großstädter das Gleiche erlauben durfte!
"Dem Münsterland wäre es vermutlich ebenso wenig recht, Ihren Leichnam in seiner Erde zu wissen", mischte sie sich ungefragt ein.
Einen Moment lang herrschte Stille im Abteil, die Hamburgerin blickte langnäsig aus dem Fenster, ihr Gatte sah so verwirrt aus, als glaubte er daran, sich verhört zu haben.
Karla dachte an Wulf Peters, dem sie für seine Diplomarbeit in Psychologie als Versuchskaninchen zur Verfügung gestanden hatte, und an den Rat, den er ihr mehr als einmal gegeben hatte: "Immer erst langsam bis drei zählen und tief durchatmen, ehe du vorschnell auf Äußerungen anderer reagierst!"
Also zählte Karla, wenn auch mit Verzögerung, bis drei und ergänzte dann in freundlicherem Ton: "Ich bin sicher, dass Sie noch nie eine Pättkestour gemacht haben und auch nicht wissen, wie köstlich Töttchen oder dröge Endken schmecken."
Die Hamburger sahen sie an, als spräche sie Kisuaheli mit kreolischem Akzent.
Karla erhob sich, griff nach ihren beiden Taschen und verabschiedete sich. Dass ihr Gruß, wenn auch äußerst verhalten, erwidert wurde, versöhnte sie ein wenig.
Geduldig stellte sie sich in den Gang und sah Münster entgegen. Während sie aus dem Fenster blickte, fragte sie sich, ob sie für das Wiedersehen gerüstet war.
Zehn Jahre war sie nicht m Münster gewesen. Eine verdammt lange Zeit! Und sie hatte sich einmal geschworen, nie wieder zurückzukehren, aber nun ... Damals hatte sie nicht ahnen können, dass man ihr gerade hier eine Festanstellung anbieten würde. Die Jahre als freie Journalistin m Hamburg waren zwar gute Eehrjahre gewesen, doch der Wunsch, endlich ein festes Einkommen zu beziehen und ein geregelteres Leben zu führen, war in den letzten Monaten immer stärker geworden. Immerhin war sie mittlerweile siebenunddreißig Jahre alt! Zeit, sesshaft zu werden. Und warum nicht in Münster?
Karla warf einen Blick ins Abteilfenster, aus dem ihr Spiegelbild zurückfiel. Sie sah gut aus. Zehn Jahre älter als damals natürlich, aber immer noch gut. Vielleicht sogar besser als früher. Aus ihr war eine Frau geworden, die wusste, was sie wollte. Was würde Martin sagen, wenn er sie sähe? Würde er sie überhaupt wiedererkennen? Sie wusste, dass sie sich verändert hatte. Vor zehn Jahren hatte sie ausgesehen wie eine unbekümmerte Studentin, obwohl sie es nicht mehr war. Heute war sie eine attraktive Frau, die aussah, als hätte sie ihren Platz im Eeben gefunden, obwohl das nicht stimmte. Nun aber schien es so, als sollte ausgerechnet Münster dieser Platz werden. Die Stadt, in der Martin wohnte. Immer noch?
Der Zug verringerte sein Tempo und überfuhr die Sudmühlenstraße im Stadtteil Handorf. Lange Autoschlangen reihten sich auf beiden Seiten der Bahnschranken auf. Wie vor zehn Jahren! Karla hatte für ein paar Monate in Dorbaum gewohnt und das hübsche Appartement nur deshalb aufgegeben, weil sie nicht einen Teil ihrer kostbaren Lebenszeit vor dieser Bahnschranke zubringen wollte.
Auf der Seite, die zum Schiffahrter Damm führte, stand ein Lkw mit der Aufschrift "Spedition Jan van Bröder". Karla ließ sich widerstandslos von den Nachdrängelnden vorwärts schieben. Jan van Bröder! Als sie Münster verließ, schien es, als müsse Jan seinen letzten Lkw verkaufen und Konkurs anmelden. Anscheinend hatte er seinen Betrieb retten können.
Sie waren sich ähnlich gewesen, Karla und Jan. Beide neigten sie zu unvorsichtigen Äußerungen, beide reagierten spontan und nicht selten mit unangemessenem Eifer. Infolgedessen hatte Karla nie ihre Festanstellung als Redakteurin beim Verbrauchermagazin bekommen und Jan einen Kunden nach dem anderen verloren. Möglich aber auch, dass seine sexuellen Vorlieben ihm das Geschäft kaputt gemacht hatten. Die Geschäftsleute in Münster waren konservativ. Wenn sich herumgesprochen hatte, dass Jan van Bröder ein Freund von Sado-Maso-Spielen war, mochte der eine oder andere Poahlbürger verschreckt reagiert haben. Diese gut situierten Münsteraner mit ihren bekannten Namen zeichneten sich durch Bodenständigkeit und unwandelbare Auffassungen aus. "Sado-Maso" gehörte jedenfalls nicht zum Vokabular eines Poahlbürgers.
Karla war entsetzt gewesen, als Jan sie mit dem geheimen Inhalt seiner Schränke bekannt gemacht hatte und ihr eine Peitsche in die Hand drücken wollte. Da sie verliebt gewesen war, hatte sie zwar eine Weile gezögert, sich dann aber entschlossen, Jans bizarre Wünsche nicht zu erfüllen. Schwarze Stiefel, Latexanzug und Maske? Nein, auch nicht Jan zuliebe! Für Karla musste Liebe anders aussehen. So endete ihre Beziehung zu Jan, ehe sie richtig begonnen hatte. Und dann war sie ja auch Martin begegnet...
"Verehrte Fahrgäste, unser Zug fährt in wenigen Minuten in den Hauptbahnhof Münster ein. Bitte, achten Sie auf Ihr Gepäck, vor Taschendieben wird ausdrücklich gewarnt!"
Nanu, aus dem biederen Münster sollte ein Nest von Kriminellen geworden sein? Karla blickte sich um. Nichts schien sich verändert zu haben. Der Bahnsteig noch so freudlos wie früher, die Treppen, die herabführten, noch genauso buckelig, der lange Gang davor kalt und schmuddelig! Nur der Verkaufsstand in der Mitte der Bahnhofshalle war neu, wo sich Reisende selbst bedienen und Geleebonbons und Lakritzschnecken in eine Tüte schaufeln konnten.
Nachdem Karla ihre Taschen in einem Schließfach deponiert hatte, entschloss sie sich, ihre ersten Schritte in die Stadt mit Cola-Fläschchen, knallblauen Gummischlümpfen und sauren Pommes zu versüßen. Das Gepäck würde sie später holen, erst mal wollte sie die Stadt begrüßen, und dafür war ein Taxi nicht geeignet. Vielleicht gab es unter ihren künftigen Mitbewohnern einen Kfz-Besitzer, der ihr sein Auto leihen konnte, um die beiden Reisetaschen später zu transportieren.
Münster, da bin ich! Karla stand auf dem Bahnhofsvorplatz und sah sich um. So vieles war anders geworden! Von dem Fahrradparkhaus hatte sie sogar in Hamburg in der Zeitung gelesen! Der Gang, der früher die Fußgänger unter der Bahnhofstraße hindurchführte, war verschwunden. Der Strom der Reisenden und Pendler ergoss sich über einen Zebrastreifen in die Windthorststraße. Jetzt musste man nicht mehr ein Minenfeld an Fahrrädern durchqueren, die einem ihre Lenkstangen in die Seite stießen und mit den Pedalen die Beine aufkratzten.
Karla wollte sich gerade einen Weg an einer Gruppe von Obdachlosen vorbeibahnen, die den Bahnhofsvorplatz bevölkerten, als einer von ihnen aufsprang. Die stumpfen Blicke der anderen verfolgten träge, wie ihr Schicksalsgenosse jedem Reisenden, der den Hauptbahnhof verließ, ein Bild vor die Nase hielt. "Meine Freundin! Eh, guck mal! Habt ihr die gesehen? Die ist verschwunden, eh! Guck doch mal! Einer muss sie doch gesehen haben. Einfach so verschwunden! Aber keinen interessiert es. Nicht mal die Polizei, eh!"
Karla blieb nicht verschont. Sie warf einen Blick auf das unscharfe Foto. Gegen ihren Willen blieb sie stehen, ärgerte sich über die schadenfrohen Gesichter der anderen Reisenden, die sich unbehelligt vorbeischieben konnten, und hörte sich an, was der Berber zu sagen hatte.
"Guck sie dir an, meine Freundin. Eh, die ist weg. An einem Abend war sie noch da, am nächsten war sie weg. Ich hab die auch als vermisst gemeldet. Bei der Polente, eh. Echt, ich war da, auf dem Polizeirevier. Aber was sagen die, eh? Jemand ohne festen Wohnsitz kann nicht vermisst werden."
"Entschuldigung, ich muss weiter." Karla versuchte, an dem Obdachlosen vorbeizukommen.
"Wenn einer nicht in seine Wohnung zurückkehrt, okay, der wird dann vermisst. Aber wer seinen Schlafsack nicht zurückbringt, eh, und sich nicht da aufs Ohr legt, wo er die Nächte vorher auch gelegen hat, eh, der wird dann nicht vermisst. Der schläft dann eben nur woanders, sagt die Polente."
Der junge Mann kam Karla nah, viel zu nah. "Und die weiß ja schließlich Bescheid", sagte sie abweisend. "Bescheid? Eh, weißt du, was die noch sagen? Dass meine Freundin 'nen anderen Typen gefunden hat, bei dem sie jetzt pennt. Einen mit 'ner Wohnung, eh." "Tut mir Leid, aber -"
"Ich weiß genau, dass sie nicht freiwillig weg ist. Dann hätte sie nämlich ihren Emil mitgenommen, eh." Er hielt Karla einen Stoffhasen hin, der aussah, als wartete er schon lange darauf, endlich seinen wohlverdienten Ruhestand in einem Müllcontainer anzutreten. "Den Emil hat sie als kleines Mädchen von ihrer Mutter bekommen. Und den hätte sie nie im Leben zurückgelassen. Nie im Leben, eh!"
"Tut mir wirklich Leid, aber ich muss jetzt weiter."
"Klar, alle müssen weiter, eh. Immer nur weiter. Wen interessiert es schon, dass meine Freundin verschwunden ist? Echt, eh. Und ob sie jemand abgemurkst hat, interessiert auch kein Schwein. Ohne Leiche keine Fahndung, sagt die Polente, eh ..."
Während Karla die Windthorststraße entlangging, versuchte sie, das Gesicht des Berbers aus ihrem Kopf zu verdrängen. Und das Fremde, auf das sie nicht vorbereitet gewesen war. Erst m der Nähe der Rafaelsklinik gelang es ihr. Die Clemenskirche kam in Sicht, Vorfreude stieg in ihr auf. Nur noch wenige Schritte und sie würde auf dem Prinzipalmarkt stehen.
Münsters gute Stube hieß sie willkommen mit Sonnenschein. Aber über der Lambertikirche zogen erste Wolken auf, und über die drei Käfige, aus denen die Raben die Leichname der hingerichteten Wiedertäufer gepickt hatten, fiel bereits ein langer Schatten. Bald würde es Regen geben. Nichts Besonderes in Münster. Hier regnete es entweder, oder die Glocken läuteten, und sonntags durfte man in der Regel beides genießen.