FLAMMEN IM SAND | SYLT-KRIMI, MAMMA CARLOTTAS 4. FALL
Verlag | Piper
Erscheinungsdatum | Ende Mai 2010
LESEPROBE:
Carlotta Capella schwebte über einen roten Teppich. Okay, richtig rot war er nicht, eher bockwurstbraun, und ein wirklicher Teppich war es auch nicht, sondern mehr ein robuster Sisalläufer. Aber darauf kam es nicht an. Sie schwebte, so viel stand fest! Anders konnte man es nicht nennen, wenn sie sich nicht wie sonst mit hurtigen, energischen Schritten fortbewegte, sondern sehr überlegt und unglaublich graziös, geradezu gazellenhaft, ein Bein vors andere setzte, dabei eine Miene zog, als wäre das Leben eine große Losbude voller Hauptgewinne, und Gebärden einstudierte, über die ihre sieben Kinder sich totgelacht hätten, wenn sie in den Genuss dieser Darbietung gekommen wären. Aber Mamma Carlotta hatte Glück, sie befand sich in der Gesellschaft von Menschen, die diese Sache ernst nahmen. Und ihre anwesende Enkeltochter, die sonst erwartete, dass ihre Großmutter sich großmütterlich verhielt und alles andere schrecklich peinlich fand, hielt sich mit Erheiterung und Spott tunlichst zurück. Denn Carolin war sich keineswegs sicher, mit der gebotenen Aufgabe besser fertig zu werden als ihre Nonna, wenn sie selbst an der Reihe sein würde.
"Jetzt stehen bleiben! Rechte Hand in die Taille! Rechte Hüfte noch vorn! Über die rechte Schulter blicken! Bon! Très bien! Und wieder retours!"
Mamma Carlotta fühlte sich großartig, während sie zum Anfang des Läufers zurückschritt. Sie fragte sich sogar, ob sie ihr bisheriges Leben fern ihrer eigentlichen Bestimmung verbracht hatte.
"Sie sind ein Naturtalent, Madame!", rief Yvonne Perrette prompt. „Wenn der Hauptkommissar Sie sehen würde – er wäre hingerissen!“
Daran glaubte Mamma Carlotta zwar nicht, aber da sie sich die Freude an diesem wunderbaren Tag nicht verderben wollte, antwortete sie nicht auf Yvonne Perrettes Bemerkung. Hochzufrieden nahm sie neben ihr Platz, als Carolin sich am Sisalläufer aufstellte und ein letztes Mal genau gesagt bekam, was sie zu tun hatte. "Gerade gehen! Kopf hoch! Nicht zu schnell! Am Ende warten, warten, warten … Und dann langsam zurück!"
Gerührt betrachtete Mamma Carlotta ihre Enkelin, die sich redlich Mühe gab, Heidi Klum Konkurrenz zu machen. „Wie hübsch sie geworden ist, meine kleine Carolina!“
Seit sie ihr Schulpraktikum im Mode-Atelier absolvierte, noch hübscher. Und seit die beiden Besitzerinnen eine Modenschau planten, war Carolin sogar bereit, sich mit dekorativer Kosmetik zu beschäftigen. Bisher hatte sie nicht viel von Rouge, Lipgloss und Eyeliner gehalten und von Haarschmuck auch nichts. Neuerdings aber blockierte sie stundenlang das Badezimmer, um mit Puder und Lidschatten Erfahrungen zu sammeln und neue Frisuren auszuprobieren. Und seit Madame Perrette ihr in modischen Fragen mit Rat und Tat zur Seite stand, trug sie gelegentlich bunte Pullover und seit seinigen Tagen sogar eine Tunika, die sie selbst genäht hatte. Und das, obwohl sie sich als sehr unpraktisch erwiesen hatte, weil die weiten Ärmel ständig in der Butter oder im Kakao hingen und einmal sogar im Licht einer Kerze, das die Tunika beinahe ruiniert und die Familie obdachlos gemacht hätte. Aber zum Glück hatte Felix den Tunika-Ärmel geistesgegenwärtig mit einem Glas Cola gelöscht, ehe Carolin mit der brennenden Tunika schreiend durchs Haus laufen und die Gardinen in Brand setzen konnte. Seitdem waren die Ärmel zwangsläufig kürzer geworden und praktischer in der Handhabung, und Carolin hatte für ihren künftigen Beruf etwas Wesentliches gelernt: Eine Modeschöpferin durfte nicht außer acht lassen, dass die moderne Frau eine zweckmäßige Mode brauchte, in der sie die eine oder andere Arbeit verrichten konnte, ohne sich in Lebensgefahr zu bringen.
Mamma Carlotta war entzückt gewesen, als sie bei ihrer Ankunft auf Sylt zu hören bekam, dass Carolin einen neuen Beruf ins Auge gefasst hatte. Früher hatte sie Lehrerin werden wollen, das war Mamma Carlotta auch sehr recht gewesen. Dann jedoch war sie von dem Wunsch besessen gewesen, Schriftstellerin zu werden und schließlich sogar Sängerin. Beides hatte ihre Nonna mehr befremdet als erfreut. Nun jedoch wollte sie nach der Schule unbedingt eine Schneiderlehre absolvieren, um Modedesignerin zu werden. Das war so recht nach dem Geschmack ihrer Großmutter! Die hatte schließlich ihre sieben Kinder nur anständig kleiden können, indem sie das meiste selbst nähte. Sie kannte sich also aus. Mamma Carlotta hatte stets mit großem Eifer hinter der Nähmaschine gesessen und manchmal bis spät in die Nacht aus einem abgetragenen Mantel ihres Mannes eine neue Hose für ihren Ältesten oder aus einem Sommerkleid, das ihr zu eng geworden war, eine Bluse für ihre Jüngste geschneidert. Zwar war sie nie auf die Idee gekommen, sich Modeschöpferin oder Designerin zu nennen, aber darauf kam es nicht an. Sie hatte etwas Neues geschaffen und später etwas in Händen gehabt, auf das sie stolz sein konnte. Auch Lucia, Carolins Mutter, hatte gern genäht, und Mamma Carlotta war stolz, dass ihre Enkelin dieses Familienerbe nun weitertrug. Mit großem Engagement hatte sie Carolins Zukunftspläne verteidigt, als Erik zu erkennen gegeben hatte, dass er sich für seine Tochter einen akademischen Beruf wünschte.
"Handwerk hat goldenen Boden, Enrico! Das ist auf Sylt nicht anders als in Italia! Vielleicht wird Carolina sogar eine berühmte Modeschöpferin!”
Und nachdem Erik festgestellt hatte, dass seine Tochter, seit sie ihr Schulpraktikum in der Schneiderwerkstatt absolvierte, gelegentlich etwas anders trug als beige oder graue Pullover zu unauffälligen Jeans und neuerdings modische Stiefeletten statt ihrer bequemen braunen Halbschuhe mit den grauen oder beigen Socken, hatte er sich jede Kritik an Carolins Berufswunsch versagt. Nur, als sie unbedingt eine neue Krawatte für ihn entwerfen wollte und einen Stoff dafür ausgesucht hatte, den er nicht einmal auf einem Sofakissen geduldet hätte, hatte er sich noch einmal aufgelehnt.
Was er wohl sagen würde, wenn er hörte, dass seine Tochter in Zukunft nicht nur Mode entwerfen und anfertigen wollte, sondern sie sogar bei der nächsten Präsentation des Mode-Ateliers vorführen würde? Mamma Carlotta war nicht ganz sicher, dass er darüber ebenso begeistert sein würde wie sie selbst. Und dass sie Anerkennung ernten würde, wenn Erik hörte, dass auch seine Schwiegermutter an der nächsten Modenschau beteiligt sein würde, bezweifelte sie ebenfalls. Da konnte Yvonne Perrette noch so oft das Gegenteil behaupten! Hätte sie etwa doch ablehnen sollen? Nein! Niemals hätte sie eine Aufgabe zurückgewiesen, die so wahnsinnig aufregend war, dass später ihr ganzes Dorf auf der Piazza zusammenlaufen würde, wenn sie davon erzählte. Carlotta Capella als Model! Dabei spielte es überhaupt keine Rolle, dass es sich um besonders weite Mode für Mollige und ausgesucht dezente Modelle für die reife Dame handelte. Sie durfte sich mit Fug und Recht ein Mannequin nennen!
Wie wunderbar würde es erst sein, wenn sie beim Schweben über den Sisalläufer die Kleidung trug, die im Mode-Atelier entworfen worden war! Elegante Schnitte, teure Stoffe! Vermutlich würde sie derart gewandet noch anmutiger schreiten und ganz automatisch noch eleganter auf ihr Publikum wirken!
Sie musste unbedingt jemanden finden, der ihren Auftritt fotografierte, wenn es so weit war! Ob Erik neben dem Laufsteg sitzen würde? Nein, darauf durfte sie wohl nicht hoffen. Aber vielleicht würde Felix bereit sein, den Auftritt seiner Großmutter und seiner Schwester für die Nachwelt zu dokumentieren! Sicherlich musste sie ihm neue Turnschuhe oder sogar einen neuen Fußball versprechen, damit er bereit war, sich so etwas wie eine Modenschau anzusehen, aber das war ihr die Sache wert!
Ach, wenn Dino das noch erleben könnte! Aber diesen Gedanken schüttelte Mamma Carlotta so schnell ab, wie er ihr gekommen war. Nein, auch von ihrem Mann wäre ihr wohl jede Anerkennung versagt worden. Dino hätte sich an die Stirn getippt und sie aufgefordert, den Keller aufzuräumen, statt sich solche Flausen in den Kopf zu setzen. Er hatte sie nach ihrem dreißigsten Geburtstag nie anders als in dunkler Kleidung gesehen, mit dunklen Strümpfen und bequemen Pantoletten. Und dass sie nach seinem Tod abgenommen hatte und geradezu aufgeblüht war, wäre ihm vermutlich nicht recht gewesen. Seine Frau hatte sich als Witwe ihr erstes Blümchenkleid gekauft, verzichtete seitdem auf den Haarknoten, hatte sich den ersten Friseurbesuch ihres Lebens geleistet und sich einen Lockenstab angeschafft. Mittlerweile war sie sogar Besitzerin eines Lippenstiftes, todschicker Schuhe, die sich Sneaker nannten, und trug gelegentlich Hosen, die sie nach ihrer Rückkehr in Umbrien ganz hinten in den Schrank hängte, damit niemand sie sah. Manchmal dachte sie sogar daran, sich eine Jeans zuzulegen, da ihr aufgefallen war, dass sie auf Sylt nicht nur von gertenschlanken und auch keineswegs nur von jungen Frauen getragen wurden. Aber wenn sie sich das traute, musste sie wirklich vergessen, dass Dino im Himmel auf einer Wolke sitzen und vorwurfsvoll auf sie herabblicken könnte.
Mamma Carlotta warf Yvonne Perrette einen Blick zu, dann setzte sie sich genauso kerzengerade hin wie sie. Dino war tot! Und nachdem sie ihn rund zwanzig Jahre aufopferungsvoll gepflegt hatte, brauchte sie sich keine Schuldgefühle einzureden, wenn sie versuchte, ihrer Witwenschaft etwas Positives abzugewinnen! Yvonne Perrette hatte sogar behauptet, sie sei sehr hübsch mit ihren dunklen Augen und den schwarzen Locken, die nur wenige graue Strähnen aufwiesen. Und während sie früher übergewichtig gewesen war, wurde sie nun höchstens mollig genannt. Mollig! Was für ein schönes deutsches Wort!
Yvonne Perrette klatschte in die Hände. "Es wird immer besser", sagte sie zufrieden, und damit meinte sie zweifellos nicht nur Carolin, sondern auch Mamma Carlotta. "Meine Kundinnen werden begeistert sein. Der Kaufwunsch wird viel eher angeregt, wenn keine professionellen Models die Mode vorführen, sondern Frauen wie du und ich!"
Mamma Carlotta pflichtete ihr lebhaft bei, obwohl sie noch nie im Leben Gast einer Modenschau gewesen war, sondern nur gelegentlich im Fernsehen staunend beobachtet hatte, wie bedauernswert unterernährte Models Stoffkreationen über den Laufsteg trugen, wie sie in Mamma Carlottas umbrischen Dorf höchstens an Signora Libertini zu sehen waren. Die verfiel von Zeit zu Zeit in Depressionen und schnitt dann die Ärmel aus ihrer Bluse oder stieg in die Hosen ihres verstorbenen Mannes, der zu Lebzeiten gut zwei Zentner auf die Waage gebracht hatte. Doch seit Mamma Carlotta den Sisalläufer im Modeatelier im von Westerland entlangschritt, kam sie sich wie eine Expertin in Sachen Mode vor. In ihrem Dorf würde keiner mehr von Claudia Schiffer oder Kate Moss reden können, ohne sich anschließend etwas über Carlotta Capellas Erfahrungen auf dem Catwalk anhören zu müssen. Und Signora Rondinoni, die Besitzerin der kleinen Änderungsschneiderei, würde der Vergleich ihrer winzigen Werkstatt hinter der Küche mit dem großen Sylter Atelier nicht erspart bleiben.
Jannes Pedersen hatte sein ohnehin geräumiges Haus geschickt noch weiter vergrößert. Schon, als er es von seinen Eltern erbte, hatte es zwei Geschäfte darin gegeben, die Bäckerei, die seine Mutter, und den Fahrradladen, den sein Vater geführt hatte. Nach ihrem Tod hatte Jannes die Bäckerei aufgegeben und das Angebot des Fahrradladens erheblich erweitert. Er hatte ihm einen Verleih angeschlossen und dem Gebäude eine Werkstatt angefügt, die eingeschossig so weit in sein Grundstück ragte, wie die Bauordnung es zuließ. Der große Obst- und Gemüsegarten, den seine Mutter geliebt hatte, war diesen Maßnahmen zum Opfer gefallen. Ebenso war es mit der anderen Hälfte des Hauses geschehen. Der frühere Bäckerladen war zunächst einem Verwandten überlassen worden, der dort seine Skulpturen und Bilder ausstellen durfte, aber der hatte weichen müssen, als Jannes sich mit Yvonne Perrette verband. Seitdem war der frühere Bäckerladen der Verkaufsraum des Mode-Ateliers, mit viel Platz für die Modellkleider, zwei großen Schaufenstern rechts und links neben der Eingangstür, einem dunklen Holzboden, der mit einem hochglänzenden Lack gestrichen worden war, und hellen Wänden, die von vielen kleinen Lampen angestrahlt wurden und dadurch schneeweiß erschienen. Aus einem Teil der alten Bäckereitheke hatten Yvonne und Geraldine ihren Ladentisch gemacht, auf dem die Kasse stand und die Waren zusammengelegt und verpackt wurden. Dahinter öffnete sich die Tür zur Schneiderwerkstatt, die nur gute Kunden betreten durften, um den Fortschritt der Arbeiten an ihrem bestellten Design-Modell zu begutachten. Auch diese ehemalige Backstube war erheblich vergrößert worden durch einen Anbau, der sich parallel zur Fahrradwerkstatt tief in das Grundstück schob. Mehrere Arbeitsplätze mit Nähmaschinen gab es dort, Schneiderpuppen standen herum, lange Tische liefen durch den Raum, auf denen zugeschnitten und zusammengesteckt wurde, drei Bügelbretter und Bügeleisen standen daneben, und von der Decke baumelten, an schweren Ketten befestigt, lange hölzerne Stangen, an denen die Kleidungsstücke hingen, die auf Bestellung angefertigt worden waren und nun darauf warteten, abgeholt zu werden. An jedem war mit einer Stecknadel ein kleiner Zettel befestigt, auf dem der Name der Kundin stand.
Der Raum war dunkel, denn das Licht, das vom Garten hereinfiel, erreichte kaum die Mitte des Ateliers, aber das spielte keine Rolle, da in einem Schneideratelier ohnehin stets mit künstlicher Beleuchtung gearbeitet wurde.
Die Tür öffnete sich, und Geraldine Bertrand, Yvonnes Schwester, kam vom Laden ins Atelier. Sie war eine kleine, zierliche Person mit einem runden Gesicht und großen dunklen Augen. Eine außergewöhnlich hübsche Frau mit weichen Zügen, trotzdem war Mamma Carlotta davon überzeugt, dass das Zarte, Zerbrechliche, das von von Geraldine ausging, einen harten Kern verhüllte. Sie vertraute weder Geraldines freundlichem Lächeln noch ihrer Höflichkeit. Beides erschien ihr aufgesetzt, unecht, gespielt. Yvonne war ganz anders als ihre Schwester. Attraktiv zwar auch, aber auf unauffällige Weise. Sie war liebenswürdig, bescheiden, zurückhaltend und betonte ihre körperlichen Vorzüge nicht, wie Geraldine es tat. Sie schien nicht einmal darauf vertrauen zu können, dass sie wirklich hübsch war.
Mamma Carlotta glaubte zu wissen, woran das lag: Yvonne war mit dem falschen Mann zusammen. Jannes Pedersen war ein unsympathischer Kerl, grob und einschüchternd, freundlich nur, wenn er seinen Kunden etwas andrehen wollte, was sie nicht gebrauchen konnten. Sein Fahrradhandel und –verleih war in der anderen Hälfte des großen Hauses untergebracht, und immer wenn er die Verbindungstür zwischen den beiden Geschäften öffnete und im Modeatelier erschien, wurde Yvonne nervös und ängstlich, während Geraldine dem Lebensgefährten ihrer Schwester stets den Rücken zukehrte. Ob sie ahnte, wie begehrlich er dann auf ihre Beine starrte? Yvonne jedenfalls wusste es. Mamma Carlotta hatte schon oft beobachtet, wie sie ihn verstohlen ansah, während er sich in Geraldines Kehrseite vertiefte.
Trotz dieser Zurückweisung, für die Geraldine eigentlich Anerkennung verdient hatte, machte Mamma Carlotta aus ihrer Verächtlichkeit selten einen Hehl. Sie hatte genug von Geraldine gehört, um sich dieses Gefühl leisten zu können. Was für ein Glück, dass Frau Kemmertöns, die Nachbarin, so gut Bescheid wusste! Die war zwar eine echte Friesin und als solche nicht besonders gesprächig, aber wenn es um die beiden Mode-Schwestern ging, wie sie Geraldine und Yvonne nannte, änderte sich das schlagartig. Frau Kemmertöns war nämlich entfernt mit dem Baustoffhändler Tadsen verwandt und wusste, dass Geraldine Bertrand ein Verhältnis mit ihm hatte. Mit einem verheirateten Mann! Eine Tatsache, die Frau Kemmertöns derart empörte, dass sie ihre Verschlossenheit vergaß, sobald die Rede darauf kam.
Seit Carolin ihr Schulpraktikum bei den Mode-Schwestern machte, verzichtete Mamma Carlotta häufig auf ihren Espresso und trank stattdessen Tee mit Frau Kemmertöns, um mehr über Geraldine Bertrand zu erfahren. Und was sie nun wusste, gab ihr unbedingt das Recht, der schönen Französin so zu begegnen, wie sie es verdiente: unhöflich und geringschätzig! Wenn es sich eben einrichten ließ, verabschiedete sie sich, sobald Geraldine aus dem Laden in die Werkstatt kam, und radelte nach Wenningstedt zurück.
Diesmal ließ es sich einrichten. Die Mittagszeit nahte, und Carlotta Cappella musste für ihren schwer arbeitenden Schwiegersohn und die beiden Enkelkinder das Essen vorbereiten. Das ließ sie sich nicht nehmen! Auch nicht von der Aussicht, Mode für die reife und mollige Dame vorzuführen. Seit Lucia nicht mehr lebte, blieb in dem kleinen Haus am Süder Wung viel zu häufig die Küche kalt. Solange Mamma Carlotta auf Sylt zu Gast war, sollte es dort Tag für Tag ein gutes, nahrhaftes Essen geben. Der arme Erik und die beiden mutterlosen Kinder mussten gelegentlich vergessen, wie übel ihnen das Schicksal mitgespielt hatte. Das war Carlottas Pflicht! Sie hatte es oft in die Wolken geseufzt, wo sie Lucia vermutete, und ihr fest versprochen, sich um Erik und die Kinder zu kümmern, wann immer es ging. Und seit sie Witwe war, ging es zum Glück mehrmals im Jahr. Dass sie Dinos Erspartes nach und nach in eine italienische Fluggesellschaft investierte, verursachte ihr kein schlechtes Gewissen. Niemand durfte etwas Unrechtes daran finden, dass sie die Familie ihrer verstorbenen Tochter so oft wie möglich unterstützte. Dass sie außerdem Freude am Reisen gefunden und Sylt mittlerweile lieben gelernt hatte, tat dabei nichts zur Sache.
Entschlossen griff sie nach ihrer Jacke. "Scusa! Es wird Zeit für mich."
Yvonne Perrette lächelte freundlich. "Natürlich! Ich werde dafür sorgen, dass Carolin pünktlich zum Essen zu Hause ist."
Geraldine Bertrand wünschte Mamma Carlotta sogar noch einen schönen Tag und gab mit gewählten Worten ihrer Hoffnung Ausdruck, Mamma Carlotta bald wieder im Mode-Atelier begrüßen zu dürfen. Doch sie erhielt keine Antwort. Mamma Carlotta, die verschnörkelte Formulierungen eigentlich liebte und selbst in einer Unterhaltung nicht ohne viele überflüssige Wörter auskam, fand, dass die gleiche Gewohnheit bei Geraldine Bertrand ein Ausdruck ihrer Überspanntheit war. Und auf sowas musste sie nicht eingehen!
Sie schloss den Reißverschluss ihrer dicken Jacke so hoch wie möglich, holte Mütze, Schal und Handschuhe hervor. Solange sie nicht aus ihrem umbrischen Dorf herausgekommen war, hatte sie nichts dergleichen besessen. Dort reichte eine warme Strickjacke, die sie sich im Winter überzog, und gelegentlich, wenn es besonders kalt war, ein großes wollenes Tuch, das sie sich außerdem überwarf. Aber auf Sylt war das etwas anderes. Carlotta hatte vorher nicht geahnt, wie kalt die Luft und wie eisig der Wind sein konnte. Lucia hatte oft darüber gesprochen, wenn sie in Umbrien zu Besuch war, aber erst jetzt, als sie zum ersten Mal im Winter auf Sylt war, konnte Mamma Carlotta ihre Tochter verstehen.
Sie schaute zurück, ehe sie das Mode-Atelier verließ, und genoss den schönen Anblick, bevor sie sich in die Kälte wagte. Diese leise Emsigkeit, wie sie in jeder Schneiderei herrschte, wo das Surren der Nähmaschinen das einzige laute Geräusch war, die gebeugten Rücken, die zeigten, wie intensiv und wichtig jeder einzelne Stich war, und die stolzen Augen, wenn die Näherin ein Kleidungsstück in die Höhe hielt und ihr Werk begutachtete.
Carolin war so auf ihre Arbeit konzentriert, das Mamma Carlotta Tränen der Rührung in die Augen stiegen, und auch Yvonne Perrette hatte sich wieder über ihre Arbeit gebeugt, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt. Nur Geraldine Bertrands Augen gingen über die Bluse hinweg, aus deren Nähten sie die Schneiderkreide bürstete. Noch immer stand das Lächeln in ihrem Gesicht, mit dem sie Mamma Carlotta verabschiedet hatte und mit dem sie ihre Kundinnen zu empfangen pflegte. Aber ihre Augen waren eiskalt. Wie immer, wenn sie sich auf ihre Schwester richteten. Mamma Carlotta schüttelte den Kopf, während sich die Tür hinter sich ins Schloss zog. Wie konnten zwei Schwestern, die ein gemeinsames Geschäft betrieben, sich derart feindselig anblicken?