"Strandläufer" / Mamma Carlottas 8. Fall
Piper-Verlag, 12. Mai 2014
Heiliger Wattwurm! Was ist denn da unten los? Da geht’s ja noch lärmender zu als beim neuen Gosch. Ich hätte gleich hierhin fliegen sollen, bei Gosch ist die Konkurrenz einfach zu groß. Außerdem wird da dermaßen aufgepasst, dass man sich nicht mal in die Nähe der Tische trauen, geschweige denn darunter oder darauf zur Landung ansetzen kann. Im Nu wird man weggescheucht. Aber hier, auf dem Parkplatz, der heute keiner ist, wird vielleicht was zu holen sein. Also die Flügel ausbreiten und ein paar Runden treiben lassen, bei jeder Runde ein bisschen tiefer. Aha, auf ein paar Tischen wird Gebäck angeboten! Und da! Dicke, fest verschlossene Miesmuscheln! Da läuft einem ja das Wasser hinterm Schnabel zusammen. Man sollte den Kerl, der sie bewacht, durch plötzliche Darmentleerung aus der Reserve locken und dann … Aber stop! Was für eine Enttäuschung! Ungenießbar sind sie, diese wunderbaren, schwarz glänzenden Miesmuscheln. Da steht einem ja das Gefieder zu Berge! Gemalte Miesmuscheln! Gut, dass ich darauf nicht reingefallen bin. Und sonst? Viel Krimskrams, leider alles ungenießbar. Ich bin zwar sicher, dass die Leute da unten was Essbares in ihren Taschen haben, aber da ist nicht ranzukommen. Jedenfalls zurzeit nicht. Besser abwarten und noch ein paar Runden kreisen. Irgendwann nimmt jemand ein belegtes Brötchen in die Hand, und dann kommt meine Chance. Heutzutage muss man sich seine Nahrung hart erkämpfen. Der einzige Punkt, in dem ich der Sylter Obrigkeit zustimme: Es gibt einfach zu viele Möwen auf Sylt. Das waren noch Zeiten, als die Leute Spaß daran hatten, uns zu füttern! Aha, da geht der Bewacher des Bildes mit einem Fischbrötchen zum Abfalleimer. Er beißt noch einmal ab, der Rest scheint ihm nicht zu schmecken. Jetzt achtgeben! Sturzflug, wieder die Flügel ausbreiten, schweben, zwei Meter über dem Opfer kurz wegtreiben lassen, es in Sicherheit wiegen, dann der Angriff von hinten …
„Au!“ Tove Griess war zurückgewichen, sein misslauniges Gesicht nahm im Schreck für einen Moment einen geradezu kindlichen Ausdruck an. Verdutzt sah er der Silbermöwe hinterher, die den Rest seines Fischbrötchens zu dem unbebauten Grundstück trug, auf dem vor ein paar Jahren noch das Kurhaus von Wenningstedt gestanden hatte. Ein Schwarm von Artgenossen folgte ihr und balgte sich dort um die Beute.
„Das Füttern der Möwen ist verboten!“, rief Carlotta Capella empört, die hinter einem Tapeziertisch stand, auf dem die Ladenhüter ihres Flohmarktangebotes standen, die bis jetzt keine Käufer gefunden hatten.
„Habe ich das Mistvieh etwa gefüttert?“, schrie Tove Griess wütend zurück. „Beklaut hat sie mich!“ Aufgebracht machte er kehrt und ging zu seinem Flohmarktstand zurück, den er in Mamma Carlottas Nähe aufgebaut hatte.
„Die Möwen haben mittlerweile ihre Scheu vor den Menschen verloren“, bestätigte Carolin. „Das ist nicht gut. Sie müssen zu ihrem artgerechten Verhalten zurückfinden.“ Mamma Carlottas Enkelin war ein ernsthaftes Mädchen, ruhig und bedächtig wie ihr Vater, das sich Probleme zu Herzen und das Leben niemals auf die leichte Schulter nahm.
Eine leise Stimme mischte sich ein, schleppend und unlustig aus reiner Gewohnheit, aber durch Hohn und Schadenfreude diesmal ein wenig verschärft. „Das ist wohl das erste Mal, dass Tove seine Fischbrötchen aus der Hand gerissen werden“, brummte Fietje Tiensch. Der Strandwärter von Wenningstedt hockte auf einem Klappstuhl hinter Toves Stand, wo er sich so klein gemacht hatte, als fürchtete er Kundschaft. Er fror, hatte die Ärmel seiner marineblauen Wolljacke so weit wie möglich über die Hände gezogen und den Reißverschluss seines Troyers, den er darunter trug, bis zum Kinn geschlossen.
Tove Griess, der Wirt von Käptens Kajüte, einer Imbissstube am Hochkamp, die genau wie ihr Besitzer nicht den besten Ruf genoss, fuhr wütend herum. Sein grobes Gesicht, die vorgewölbte Stirn mit den buschigen Augenbrauen und seine kleinen Augen, die die Farbe von schwerer See und den Ausdruck eines Käptens hatten, der einer meuternden Mannschaft gegenübersteht, versetzte einen arglosen Mitmenschen schon in Angst und Schrecken, wenn er gut gelaunt war. Sobald die Wut ihn packte, nahm jeder Reißaus, der mit ihm zu tun bekam.
„Schnack kein dummes Zeug, Fietje Tiensch!“, fuhr er seinen einzigen Stammgast an. „Sieh lieber zu, dass du meine Sachen loswirst. Seit du an meinem Stand hockst, ist noch kein Euro in die Kasse gewandert.“
„Weil du nur Plunder anzubieten hast“, entgegnete Fietje ungerührt und zog sich die Bommelmütze, ohne die er nie aus dem Haus ging, über die Augenbrauen. Der Rest seines Gesichtes wurde von einem ungepflegten Bart überwuchert, als wollte er sich hinter ihm und unter seiner Mütze unsichtbar machen. „Und überhaupt … besorg deinen Flohmarktstand allein, wenn du mit mir nicht zufrieden bist.“
„Schon vergessen, dass ich fürs Mittagsgeschäft in meinen Laden zurück musste? Für eine Woche Freibier kannst du dich ruhig ein bisschen anstrengen.“
Aber der Standwärter blieb so gemütsarm, wie man ihn kannte. Toves chronisch schlechte Laune focht ihn genauso wenig an wie die Möwenplage oder eine heraufziehende Sturmflut. Unruhig wäre Fietje Tiensch nur geworden, wenn die Biervorräte in Käptens Kajüte zur Neige gingen oder die Jever-Brauerei in Lieferverzug gekommen wäre. Beides war jedoch gottlob noch nie vorgekommen.
„Ich muss übrigens gleich in mein Strandwärterhäuschen“, knurrte er. „Nach dem Rechten sehen. Nur, dass du’s weißt. Auch im März sind schon Leute am Strand!“
Mamma Carlotta witterte Unfrieden und wollte gerade mit ein paar versöhnlichen Worten für Eintracht sorgen, wurde aber durch einen Kaufinteressenten davon abgehalten. Ein Tourist in mittleren Jahren nahm einen Kerzenleuchter zur Hand. Carlottas Tochter hatte ihn von ihrer Cousine Marinella zur Hochzeit bekommen, aber nie gemocht. Zwar hatte Lucia ihn nach den Flitterwochen pflichtschuldigst in ihre neue Heimat Sylt überführt, ihn dort aber in einer Truhe versenkt, in der ihre Mutter ihn nun gefunden hatte.