MIR LANGT’S | EINE LEHRERIN STEIGT AUS!
Verlag | Rasch und Röhring, Hamburg
Erscheinungsdatum | 1994
LESEPROBE:
Damian überholt mich heute morgen schon am Stadtrand. Der röhrende Motor seines BMWs mit den ausgestellten Kotflügeln über den überbreiten Breitwandreifen kündigt ihn an, brüllt in meinem Rücken los, bis das schwarze Geschoss an meiner hinteren Stoßstange haftet. Ein halbes Schuljahr lang ist mir Morgen für Morgen der Schreck in die Glieder gefahren, jetzt gönne ich Damian kein einziges Wimpernzucken mehr. Sein hämisches Lächeln jedoch ist ungeachtet meiner ausbleibenden Reaktion das gleiche geblieben. Solange er diesen Wagen fährt, versucht er, mich und meinen untermotorisierten Mini zu provozieren. Damian gehört zu jenen jungen Männern, die ein Auto wie eine Waffe benutzen, und überdies zu denen, die Überlegenheit als einziges Lernziel akzeptieren. Und was eignet sich nach einem überaktiven Penis dafür besser als der Name eines teuren Autos? Und sein Heckspoiler als sattsam bekanntes Phallussymbol? Habe ich nicht kürzlich eine Mitschülerin verächtlich von einer "Potenzbürste" reden hören?
Ich grinse, ohne dass es mir zunächst bewusst wird. Erst als Damian sich für mein Lächeln rächt, bemerke ich meine erhellte Miene, die meine Gedanken sogar im Rückspiegel meines Autos entlarvt. Erschrocken nehme ich das Lächeln zurück, aber es ist schon zu spät. Damian donnert mit durchgetretenem Gaspedal an mir vorbei, und ich frage mich entsetzt, ob ich für ein unüberlegtes Grinsen haftbar gemacht werden kann für den Fall, dass Damian in der nächsten Kurve sein Leben aushaucht.
Ärgerlich ringe ich meinem altersschwachen Mini ein paar weitere völlig unbedeutende Stundenkilometer ab. Ist es meine Sache, dass Damian bereits als Sechzehnjähriger am Straßenverkehr teilnimmt? Dass ein Aufenthalt als Austauschschüler in Amerika ihm das Privileg einer Fahrerlaubnis zugesichert hat? In den USA kann man eben schon mit sechzehn den Führerschein machen. Und Damian ignoriert das deutsche Recht und zieht auch hier, in seinem Heimatland, als motorisierter Cowboy den Colt, mit dem er allen anderen zeigt, wo's langgeht. Erst mit dem Zweitwagen seiner Mutter, dann mit dem BMW, den ihm der Vater bereitwillig gekauft hat. Er hat ja einen Führerschein, prahlt Damian. Und seine Eltern, nach seinen eigenen Angaben, zucken nur die Schultern.
In dieser Woche habe ich einen Termin mit ihnen. Es muss doch möglich sein, die nötige Einsicht in ihnen zu wecken. Man kann doch nicht warten, bis die Polizei den Jungen erwischt oder er einen Unfall verschuldet. Natürlich könnte ich ihn anzeigen und damit verhindern, dass er Unheil anrichtet - aber ich habe schon genug Scherereien mit ihm. Es wird wirklich Zeit, dass die Eltern sich einmal an ihr Verantwortungsgefühl erinnern und als die Autoritäten handeln, die sie schließlich sind. Oder sein sollen.
Damian prescht davon. Ampellicht, das von Grün auf Gelb, auf Rot wechselt, bremst eine geduldige Autoschlange - der BMW mit der Potenzbürste an der Spitze. Aber Damian denkt nicht daran, sich einer Autorität unterzuordnen. Nicht einmal einer, die persönlich unbeeindruckt bleiben wird von seiner Missachtung. Wie diese Ampelanlage. Aber vielleicht hofft er auf die angemessene Empörung in seinem Rücken? Für Damian ist Entrüstung genauso gut wie Anerkennung. Hauptsache, er hat sich aus der Masse herausgereckt. Ich sehe seinem schlingernden Spoiler nach, beobachte besorgt die aufblitzenden Bremsleuchten und sage mir zum wiederholten Male, dass mich die Fahrgewohnheiten meiner Schüler nichts angehen. Dass meine pädagogische Aufgabe erst an der Schultür beginnt, wo die Schüler noch um jeden Zentimeter unbesetzten Terrains kämpfen. Ärgerlich trommle ich auf das Lenkrad. Natürlich weiß ich, dass ich mir etwas vormache, dass die Pädagogik etwas Ganzheitliches ist und viel zu oft mit der Vermittlung von Kenntnissen gleichgesetzt wird. Ich unterrichte die Schüler im Schulgebäude, aber mein pädagogischer Einfluss sollte zeitlich und örtlich unbegrenzt sein.
Professor Buchheim, erstes Semester. "Erziehung ist soziales Handeln. Und die Pflicht, sozial zu handeln, endet selbstverständlich nicht mit dem Pausengong. Sie haben einen Beruf gewählt, meine Damen und Herren, in dem Sie nicht zu einer festgelegten Zeit Feierabend machen können. Lehrer zu sein bedeutet, sich über die bloße Unterrichtung hinaus für das Wohl der anvertrauten Schüler einzusetzen." Ja, ja, Professor Buchheim, damals war eben alles noch anders, Sie sollten heute mal... Und die Erziehung ist doch wohl Aufgabe des Elternhauses und nicht der Schule!
Eine Kreuzung weiter biegt Damian mit quietschenden Reifen in eine Seitenstraße ein. Warum veranstaltet der Junge nur jeden Morgen diese Prunk-und-Protz-Rallye, wenn er dennoch regelmäßig zu spät im Unterricht erscheint? Wohin mag er fahren, bevor er wieder den Weg zur Schule einschlägt? Als ich selbst die Kreuzung passiere, ist von Damian nichts mehr zu sehen. - Ich muss wirklich bald mit seinen Eltern reden. In Trauben hängen die Schüler vor der Einfahrt zum Lehrerparkplatz. Einige geben bereitwillig den Weg frei. Ein Junge bewegt sich einen Schritt nach links -gerade genug, wenn auch der andere, mit dem er spricht, einen Schritt nach rechts gemacht hätte. Der aber stellt sich taub und blind. Ein langer, schlaksiger Kerl in nachlässiger Kleidung. Mario? Klar, das kann nur Mario sein. Ich trete die Kupplung, gebe Gas, der leerlaufende Motor heult. Mario scheint nichts zu hören. Andere geben ihm Zeichen, Mario nimmt sie nicht zur Kenntnis. Ich drücke kurz die Hupe, Mario zuckt nicht einmal zusammen. Wenige Zentimeter lasse ich den Wagen vorrollen, bis die Stoßstange die Tasche berührt, die Mario neben seine Füße gestellt hat. Sie kippt um, und der Walkman fällt heraus.
"Ich werd' zum Elch!", kreischt Mario los. "Welcher Hirni schiebt mir da seine Schrottkiste unter?" Er schlägt mit der Faust aufs Wagendach. "Terror in der Penne? Von den Paukern höchstpersönlich?"
Die anderen grölen begeistert, Mario wächst zu einer wichtigen Größe heran. "Das gibt Zoff. Ich lass mir doch nicht den Walkman vermackeln. Wenn der jault, ist ein Hunni fällig."
Der Weg ist jetzt frei. Ich rolle langsam am Rande des Schulhofs entlang Richtung Lehrerparkplatz. Der Kollege, der Hofaufsicht hat, macht einen Schritt auf mein Auto zu. "Ärger gehabt?"
Ich drehe die Scheibe herunter. "Das war nur wieder Mario. Er hat sein erstes Erfolgserlebnis für heute gesichert. Vermutlich wird es sein einziges bleiben." Der Kollege grinst. "Schon möglich. Von mir kriegt er jedenfalls gleich eine Fünf zurück."